Der schwarze Engel
Aufmerksamkeit. Schnell hatte sie herausgefunden, dass es viele schwache
Menschen dort draußen gab, die ein Vorbild brauchten und jemanden, der sich
ihrer annahm. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie ihre einst ehrlichen
Versuche, für jemanden da sein zu wollen, in ein Theaterspiel verwandelt hatte.
Mittlerweile hatte sie es geschafft, sich in viele Herzen zu spielen. Doch
obwohl sie es erreicht hatte, von vielen als eine Art Engel in Person gehalten
zu werden, war sie gleichzeitig von Selbstzweifeln geplagt. Tief in ihrem
Unterbewusstsein befand sich die verdrängte Tatsache, dass sie nicht echt war,
was dazu führte, dass sie immer mehr wollte. Manchmal träumte sie von den
Schlagzeilen „Delicia, das Model mit dem goldenen Herzen“. Sie träumte davon,
ein Leben zu leben, in dem falscher Ruhm die Unsicherheit über sich selbst in
ihrem Herzen heilen würde.
„So, das war es für heute. Sie
sehen wieder zauberhaft aus!“ Der Friseur zeigte Delicia ihre aufgefrischte
Frisur mit mehreren Spiegeln, diese nickte zufrieden und zahlte. Gerade als sie
gehen wollte, hörte sie jemanden ihren Namen rufen.
„Delicia! Hi!“ Sie drehte sich um
und sah Christine auf sie zukommen: „Du siehst ja wieder toll aus! Schön, dich
zu sehen, heute Abend steigt eine Party bei Nathalie, wirst du kommen? Bitte!“
Christine sah ihre Freundin mit großen, braunen Kulleraugen an und erhielt die
erwartete Antwort.
„Natürlich komme ich, wann geht es
denn los?“ Delicia schenkte ihr eines ihrer schon in der Kindheit einstudierten
Lächeln.
„Um acht. Bis dann, wir freuen
uns, wenn du kommst!“ Christine drehte sich ruckartig um und verschwand eilig.
Delicia atmete aus und ging zu
ihrem Wagen, um nach Hause zu fahren. Beides, das Auto und das kleine eigene
Haus, hatten ihre Eltern ihr geschenkt, weil sie sich gewünscht hatte,
selbstständig zu sein. Einen eigenen Beruf hatte sie noch nicht; sie versuchte,
Jura zu studieren, um Gerechtigkeit auf dieser Welt vertreten zu können, was
gut zu ihrem Image passte. Außerdem war dieser Beruf hoch angesehen und würde
ihrer Modelkarriere zusätzlich helfen. Sie hatte nicht wirklich vor, in diesem
Beruf zu arbeiten, sondern hatte geplant, das Studium abzuschließen und sich
dann voll und ganz einer Modellkarriere zu widmen, wenn der richtige Zeitpunkt
gekommen wäre. Delicia war überzeugt davon, dass sie es an die Spitze schaffen
könnte. Wenn sie weiterhin so gut an ihrem Ruf feilte und es weiterhin
schaffte, so viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken - dass sie auch mit einigen
brisanten Lügen nach half, gehörte selbstverständlich dazu -, würde ihr der Weg
die Leiter hinauf bestimmt gelingen. Ihre Eltern und all ihre Freunde glaubten,
dass Delicia eine Spitzenstudentin war und zu den besten an der Universität
gehörte. Dass sie mehrere Prüfungen hatte wiederholen müssen, weil sie
gnadenlos durchgefallen war, verschwieg sie. Stattdessen stellte sie sich als
bescheidenes Multitalent dar, das sich mit ausschließlich guten Leistungen im
Hintergrund halten und keinen Hehl darum machen wollte.
Als Delicia zu Hause angekommen
war, setzte sie sich aufs Sofa und versuchte, sich mit einigen Unterlagen, die
sie wie so häufig nicht verstand, für die nächste Prüfung vertraut zu machen,
bevor sie sich für die Party fertig machen würde. Sie hatte keine Lust, dorthin
zu gehen. Sie fühlte sich nicht wohl und manchmal wurde ihr alles einfach zu
viel. Immer dieses Lächeln, immer dieses Engelsein, es war manchmal so
anstrengend. Diese ganzen Leute, die sich um sie scharen würden, während sie
gekonnt die schüchterne Begabte mit dem goldenen Herzen verkörpern würde, bis
man sie dazu auffordern würde, etwas aus ihrem Talentshowprogramm zu
präsentieren. Es war immer das gleiche Spiel - die Leute verlangten von ihr,
etwas vorzuführen, wie z. B. die Sing- und Tanzeinlage, und sie wand
bescheiden den Kopf ab und wartete so lange, bis es schien, als hätte man sie
überredet und als würde sie den anderen zu Liebe eine kleine Darbietung geben,
worauf sie eigentlich nur gehofft hatte, um ihren Ruf zu verbessern und zu
verbreiten. Die meisten Menschen waren so leicht reinzulegen!
Plötzlich klingelte es an der Tür.
Delicia verdrehte kurz die Augen. Schon wieder eine Freundin? Konnten diese
dummen Hennen nicht einmal aufhören, zu nerven? Ruckartig erhob sie sich und
machte sich mit bitterer Miene auf den Weg. Vor der Tür blieb sie stehen,
atmete einmal tief durch und schüttelte
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