Der schwarze Kanal
notwendigerweise auch in Wählerstimmen aus. Das hat schon die Union leidvoll erfahren müssen, deren Wende in der Atompolitik ja nur die letzte Stufe eines umfassenden Modernisierungsprogramms war. In allen politischen Redaktionen genießen die Kanzlerin und ihre Arbeitsministerin für ihre Neuausrichtung gerade in der Familienpolitik hohe Sympathie. Das hindert aber keine der MeinungsmacherInnen, in der Stunde der Entscheidung dort ihr Kreuz zu machen, wo sie es schon immer gesetzt hat. Bei der CDU gibt es noch genug Polster, um das verkraften zu können, bei der FDP nicht mehr.
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Komm, wir schottern die Verfassung!
Direkte Demokratie ist in der Praxis eine ziemlich vertrackte Angelegenheit. Wer wüsste das nicht besser als die Grünen, die sich diese groß auf die Fahnen geschrieben haben? Auch hier steht am Ende ein Votum und damit die Möglichkeit, bei einer Abstimmung trotz aller Argumente zu unterliegen. Das ist natürlich nicht schön. Zumal wenn man es besser als die Mehrheit weiß, die bei dieser Form der Mitbestimmung wie bei allen demokratischen Verfahren noch immer das Sagen hat, so voreingenommen und uneinsichtig sie auch sein mag.
Zu den zentralen Wahlversprechen der Umweltfreunde in Baden-Württemberg gehörte ein Volksentscheid über das Schicksal des geplanten Bahnhofsumbaus in Stuttgart. Seit sie in ihrem neuen Vorzeigeland im Süden die Macht übernommen haben, können sie mit der Basisdemokratie endlich auf breiter Front Ernst machen – doch genau da beginnen die Probleme. Auch wenn die Umfrageinstitute die Grünen schon zur politischen Großmacht erklärten, die für das linke Lager den aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten stellen werde, sieht die Wirklichkeit bescheidener aus. Rund 15,5 Prozent der Wahlberechtigten haben in Baden-Württemberg der Ökopartei ihre Stimmen gegeben. Was ausreichte, um den Ministerpräsidenten zu stellen, ist als Basis für Volksentscheide etwas dünn.
Die Grünen verfielen deshalb auf die naheliegende Idee, die Regeln zu ändern, ab wann eine Mehrheit eine Mehrheit ist. Nach der Verfassung von Baden-Württemberg braucht es mindestens ein Drittel der Wahlberechtigten, um aus einer Volksbefragung siegreich hervorzugehen; von den 7,6 Millionen Bürgern hätten also mehr als 2,54 Millionen gegen das ungeliebte Bauprojekt stimmen müssen. Es bedurfte keiner besonderen Rechenkünste, um zu erkennen, dass es unter diesen Bedingungen für die Grünen mit ihren 1,2 Millionen Stimmen im Rücken nicht einfach werden würde. Also schlugen sie vor, per Koalitionsvertrag das erforderliche Quorum zu senken. Fortan sollte schon ein Viertel der Wahlberechtigten für einen Sieg ausreichen, das wäre dann auch für die neue Regierungspartei erreichbar gewesen.
Wenn es der guten Sache dient, sind in der grünen Überzeugungswelt Gesetzesübertretungen immer erlaubt. So wie die Demonstranten in Gorleben im Kampf gegen die Castortransporter die Bahnschienen lockerten, um den Atomstaat in die Knie zu zwingen, sollten jetzt eben die Streben der Demokratie aus ihrem Gleisbett gelöst werden. Es kam dann doch anders. Die SPD sperrte sich erfolgreich gegen das Ansinnen: Sie fand aus nachvollziehbaren Gründen, dass man ein Regierungsprojekt nicht gleich mit einem Anschlag auf die Landesverfassung beginnen sollte. Mit solch legalistischen Argumenten stießen die Sozialdemokraten bei ihrem Koalitionspartner naturgemäß auf Unverständnis, diesen Anfall von Verfassungstreue haben ihnen die Grünen bis heute nicht verziehen.
Die «Demokratie der Straße» setzt lieber auf Lautstärke als auf den Wahlzettel. Die Frage, wann bei dieser Form von Bürgerbeteiligung die erforderliche Mehrheit erreicht ist, um im normalen demokratischen Verfahren gefasste Beschlüsse zu kippen, wird aus gutem Grund von den Befürwortern derselben selten beantwortet. Reichen 5000 Demonstranten als Legitimationsbasis, das Parlament zu umgehen, wie in Gorleben, oder braucht es 500000, wie sie in den Achtzigern bei den Demonstrationen gegen die Nachrüstung zusammenkamen? Eine Entscheidung übrigens, der wir den Zusammenbruch des Kommunismus und damit den Fall der Mauer verdanken.
Partizipation durch Bürgerprotest ist eine ziemlich undemokratische Veranstaltung, wenn man länger darüber nachdenkt. Wer sich in einer Bürgerinitiative engagiert, braucht eine kostbare Ressource im Überfluss, und das ist Zeit. Leute, die morgens um sieben Uhr aufstehen und nach Dienstschluss noch
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