Der Schwarze Mandarin
sonst immer tief in sein inneres eindrang, konnte ihn diesmal nicht von seinen düsteren Gedanken ablenken.
In seiner inneren Zerrissenheit rief er Dr. Freiburg an, den einzigen Freund, dessen Frechheit ihn aus der Depression herausreißen konnte. Freiburg war zu Hause.
»Was ist?« fragte er.
»Ich komme gleich zu dir.«
»Sehr ungünstig. Mein Abend ist besetzt. Ich habe für heute einen erotischen Höhenflug eingeplant.«
»Laß sie sausen, wer immer sie auch ist. Ich muß dich sprechen …«
»Wieder Depressionen? Nimm eine Pille dagegen.«
»Damit ist es nicht getan.«
»Dann trink deinen Wodka mir Orangensaft! Das hilft doch sonst immer.«
»Ich bin einsam …«
»Junge, es gibt genug Nummern in deinem Telefonbuch.«
So sehr er Freiburgs Sexsprüche manchmal haßte, jetzt wirkten sie irgendwie erfrischend auf ihn. Da ist ein Mensch ohne Probleme, wie ich ihn beneide! Was bin ich denn? Eine wehrlose ›Grassandale‹. Bai Juan Fa, der Triade.
»Dann also nicht!« sagte er enttäuscht. »Gute Nacht!« Und legte auf.
Er flüchtete wieder zur Musik, verkroch sich in seinen Ledersessel im Arbeitszimmer, hörte sich den Schluß des ersten Aktes der ›Walküre‹ von Wagner an und schloß bei Siegmunds Liebesaufschrei ›Nun blühe, Walsungenblut!‹ die Augen.
Ich bin kein Held, dachte er voller Bitternis. Helden gibt es nur in den Sagen. Das wirkliche Leben ist beschissen. Beschissen bis zum Stehkragen …
*
Der Friseur staunte nicht schlecht und starrte Rathenow ungläubig an, als dieser sagte:
»Bitte, Haare färben. Einen hellen Mittelblondton …«
Schweigen. Der Friseur rührte sich nicht von der Stelle, aber er strich mit der flachen Hand über Rathenows silbrige Haare. Dann sagte er, als habe er sich verhört: »Färben?«
»Ja.«
»Dieses wunderbare Weiß?«
»Es gefällt meiner neuen Freundin nicht. Sie liebt blond.«
»Darf ich Ihnen einen Rat geben.« Der Friseur räusperte sich. »Von Mann zu Mann?«
»Bitte!«
»Behalten Sie Ihre silbernen Haar und wechseln Sie die Freundin. Die ist leichter zu ersetzen.«
»Sie kennen sie ja gar nicht!« sagte Rathenow tadelnd.
Der Friseur schüttelte den Kopf. »Brauche ich auch nicht. Eine Frau, die diese Haare nicht mag, hat keinen Sinn für männliche Schönheit. Ich nehme an, sie ist sehr attraktiv.«
Rathenow hatte plötzlich Spaß an der Unterhaltung. Er nickte zustimmend. »Sehr attraktiv. Flammendrote Haare, Locken bis über die Schultern …«
»Da haben wir's. Da liegt der Grund des Wunsches. Sie ist eitel, und ihre Eitelkeit kann nicht vertragen, daß ein Mann ebenso schöne Haare hat. Es ist die Furcht, daß er ihr die Schau stiehlt. Ihre Haare müssen doch überall auffallen.«
»Sind Sie Psychologe oder Coiffeur?« fragte Rathenow.
»Beides, mein Herr. Ein guter Coiffeur muß auch ein guter Psychologe sein, sonst findet er nie die Frisur, die zu dem Kunden paßt. Zu Ihnen passen die weißen Haare wie das Lächeln zu der Mona Lisa. Sie sollten es nicht ändern.«
»Ich bin nicht Mona Lisa, sondern ein alter Narr! Also, Meister – färben Sie! Ein heiles Mittelblond.«
»Nur, wenn Sie es befehlen.«
»Ich befehle es: Färben!«
»Der Kunde ist König und sein Wort Gesetz.« Der Friseur legte Rathenow den Umhang aus Perlon um. »Ich möchte mit König David sagen: Ich wasche meine Hände in Unschuld.«
»Es war Pilatus, der das gesagt hat. Siehe Matthäus 27/24 …«
»Oh, Sie sind Pfarrer, mein Herr?« Der Friseur lächelte listig wie ein Mitverschwörer. »Und haben eine rothaarige Geliebte? Gott liebt die Sünder.«
»Färben!« rief Rathenow energisch, obgleich er sich das Lachen verbeißen mußte.
Beleidigt verschwand der Friseur in einem Hinterraum und kam dann mit den Utensilien für das Färben zurück.
Wortlos ließ Rathenow die Prozedur über sich ergehen. Dann sagte der Friseur mit deutlichem Mißfallen in der Stimme:
»Schauen Sie in den Spiegel, Herr Pfarrer. So sehen Sie jetzt aus! Völlig fremd. Ihre Gemeinde wird Sie nicht wiedererkennen, wenn Sie vor den Altar treten. Mußte das wirklich sein? Mich schüttelt's bei diesem Anblick. Ihre schönen silbernen Haare.«
Rathenow starrte sein Spiegelbild an. Er war es, und er war es doch nicht. Wie schnell und einfach man einen Menschen verändern kann, dachte er. Der dort im Spiegel sieht aus wie Mitte Vierzig und hat nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Dr. Rathenow aus Grünwald. Wenn er jetzt noch eine Brille aufsetzt, kennt ihn überhaupt keiner mehr.
Weitere Kostenlose Bücher