Der Schwarze Mandarin
Min Ju hatte recht: Da sitzt ein anderer Mensch. Kein Zeuge würde mehr sagen: Ja, das ist der, der kurz vor 23 Uhr in das ›Lotos‹ gekommen ist, zusammen mit einem Chinesen.
»Ich bin sehr zufrieden«, sagte er und erhob sich. »Ein schönes Blond. Nicht zu hell, nicht zu dunkel. Sie sind ein wirklicher Meister.«
»Ich schäme mich, es getan zu haben, Herr Pfarrer. Aber der Kunde …«
»… ist König.«
Rathenow bezahlte die horrende Rechnung. Von nun an würde er sich alle vier bis sechs Wochen die Haare nachfärben lassen müssen, damit man den nachgewachsenen weißen Ansatz nicht sah. Dann fuhr er zu Dr. Freiburg. Unterwegs kaufte er sich noch eine Sonnenbrille. Im Spiegel erkannte er sich selbst nicht wieder.
Dr. Freiburg wollte gerade seine Praxis schließen, als der letzte Patient sich ins Wartezimmer setzte. Am Empfang gab er an: Ludwig Mitterwurzer, Werbekaufmann, Privatpatient. Freiburg las die neue Karteikarte und ließ dann Mitterwurzer in das Sprechzimmer bitten.
Äußerst gespannt trat Rathenow ein. Erkannte Freiburg ihn? Nein. Er warf nur einen kurzen Blick auf den neuen Patienten, wies auf einen Stuhl und fragte:
»Was kann ich für Sie tun, Herr Mitterwurzer? Erlauben Sie mir vorweg eine Frage: Sind Sie verwandt mit dem berühmten Schauspieler Mitterwurzer aus dem vorigen Jahrhundert?«
»Nein. Meine Vorfahren kommen aus Österreich, aus dem Dorf Mitter. Sie waren Kräutersammler, daher der Name Mitterwurzer.«
Dr. Freiburg starrte Rathenow an. Der neue Patient kam ihm nicht ganz geheuer vor. Außerdem erinnerte ihn die Stimme an seinen Freund Hans.
»Welche Beschwerden führen Sie zu mir?« fragte er.
»Ich leide an einer sehr seltenen und seltsamen Krankheit.« Rathenow lächelte verzückt. Er erkennt mich nicht. Dies ist die vollkommene Tarnung.
»Sie waren schon bei einem Kollegen?«
»Ja, aber der konnte mir nicht helfen. Da bekam ich den Rat, zu Ihnen zu gehen, Herr Doktor. Sie seien ein Spezialist für aussichtslose Fälle.«
»Das ist übertrieben. Wie lautete die Diagnose des Kollegen?«
Du eitler Affe. Jetzt kommt es, Freiburg!
»Ich leide an Semipalatinsk …«
Dr. Freiburg stutzte. »Woran?« fragte er verunsichert.
»Semipalatinsk …«
»Haben Sie sich auch nicht verhört? Semipalatinsk ist eine Stadt in Rußland, in Kasachstan.«
»Vielleicht ist diese Krankheit zuerst dort aufgetreten und hat daher ihren Namen. Ich weiß es nicht. Kennen Sie die Krankheit, Herr Doktor?«
Freiburg gab sich keine Blöße. Er zeigte sich sehr interessiert. Er nahm sich vor, nachher in der vierbändigen ›Inneren Medizin‹ nachzuschlagen. Himmel, man kann ja nicht alles wissen!
»Wie äußert sich die Krankheit?« fragte er.
Rathenow grinste breit. »Sehr unangenehm. Ein ständiger Drang zu furzen. Und wenn man furzt, ist es in a-moll. Manchmal auch in f-Dur – aber dann ist es immer kritisch.«
Dr. Freiburg nickte. Er sah den neuen Patienten mit vorgewölbter Unterlippe an und sagte dann:
»Nimm die Brille ab, du Scheißkerl.«
Rathenow tat es.
»Und auch die Perücke.«
»Das ist keine Perücke. Das sind meine echten Haare.«
»Schlußpfiff! Das Spiel ist zu Ende. Hans, fast wäre ich auf dich reingefallen! Semipalatinsk – das war genial! Das hat mich wirklich einen Augenblick aus der Bahn geworfen. Junge, nimm die doofe Perücke ab.«
»Es sind wirklich meine echten Haare. Ich habe sie färben lassen. Du bist der erste, der sie sieht.«
Dr. Freiburg gab keine Antwort – er griff zum Telefon. Rathenow hob die Hand.
»Wo willst du anrufen?«
»In Haar. Du bist reif für die Klapsmühle!«
»Gefällt es dir nicht?«
»Frag nicht so dämlich! Hast du Gehirnwasser verloren? War in der Nacht das Kopfkissen naß?«
»Ich wollte einfach einmal anders aussehen. Jünger. Du hast mich nicht erkannt – es ist also gelungen. Der Test war positiv.«
»Du willst also wirklich ab jetzt so herumlaufen?«
»Das habe ich vor.«
»Alle werden dich für geisteskrank halten. Der Tennisclub, der Golfclub, die Kegelbrüder.«
»Sie können mich alle …«
»Warum hast du das getan, Hans? Will Liyun das so?«
»Ich hoffe es.«
»Die Chinesin und der blonde germanische Held! Du bist ein Tölpel! Du hast nicht das geringste Zeug zum Helden. Junge, du wirkst lächerlich! Entfärbe dich wieder. Deine schönen silbernen Haare …«
»Ich will das mal eine Zeitlang so lassen. Ich bin zu dir gekommen, damit du die Freunde in den Clubs vorwarnst und sie nicht über mich
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