Der Schwarze Mandarin
Und Tod auch für Liyun! Mit größter Freude würde Ninglin ihren Leib zerstückeln. Rathenow preßte die Fäuste gegeneinander. Es gab keinen Ausweg mehr aus dieser Vernichtung.
Das Telefon klingelte, und bevor Rathenow abhob, wußte er, wer am Apparat war.
»Ja?« meldete er sich kurz.
»Hong Bai Juan Fa … wir suchen dich …«
Min Ju! Der Höllentanz begann.
»Wir haben mehrmals versucht, dich zu erreichen, Bruder.« Mins Stimme enthielt einen leichten Tadel. »Wo warst du?«
»In der Stadt.«
»Einkaufen mit Wang Liyun?«
Rathenow stockte der Atem. Es war gut, daß er saß, er wäre sonst umgekippt.
»Du weißt, daß Liyun …«
»Wir wissen alles«, unterbrach ihn Min Ju. »Sie ist am Sonnabend zu dir gekommen.«
»Du läßt mich überwachen? Du läßt einen Bruder und Cho Hai beobachten? Du hast kein Vertrauen zu mir?«
»Du bist kein Chinese, Bruder, und deshalb müssen wir immer vorsichtig sein. Wir kennen euren wankelmütigen Charakter. Wir glauben dir, daß du ein guter Hong bist und deinen Blut-Eid ernst nimmst … aber schon Lenin hat gesagt: ›Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser.‹ Komm zu mir, wir brauchen dich! Die Russen haben angegriffen!«
»Die Russen oder ihr?«
»Das ist eine unwichtige Frage. Es hat Tote gegeben, und es werden noch mehr werden.«
»Ich habe es gerade in den Zeitungen gelesen. Ninglin muß vor Freude platzen. Oder ist er einer der getöteten Chinesen?«
»Ich muß dich enttäuschen, Grassandale. Er lebt. Komm herüber!«
»Heute abend noch?«
»Denk daran, daß Liyun jetzt bei dir ist. Du kannst sie nicht beschützen oder verstecken. Vergiß nicht: Wir sind überall! Wie oft habe ich dir das gesagt.«
»Ich komme morgen früh.«
»Wann?«
»Um acht Uhr bin ich im ›Schwarzen Mandarin‹.«
»Kannst du mit einer Pistole umgehen?«
Rathenow zog den Kopf zwischen die Schultern. Nein! schrie es in ihm. Nein! Das könnt ihr nicht von mir verlangen! Nein!
»Ich habe es gelernt … in den letzten Kriegstagen … als zwölfjähriger Pimpf.«
»Man lernt es schnell wieder. Ich erwarte dich um acht Uhr bei mir.«
Min Ju legte auf. Rathenow warf den Hörer auf die Gabel und lehnte sich in seinem Sessel weit zurück. Vor seinem Blick verschoben sich die aus wertvollen Hölzern geschnitzten Kassetten der getäfelten Decke.
Sie überwachen mich. Ihr Mißtrauen hat sich verstärkt … ich weiß zuviel. Und nun ist Liyun bei mir, und sie werden nicht zögern, sie vor meinen Augen zu quälen, und ich kann ihr nicht helfen. Die Polizei verständigen? Das wird sie nur kurz aufhalten; sie werden uns jagen und finden und ›bestrafen‹. Die Triaden sind mächtiger als die Polizei. Das haben sie immer wieder bewiesen.
Morgen früh. Acht Uhr. Ist das das Ende?
Liyun steckte den Kopf durch die Tür. Wie fröhlich sie aussieht … wie glücklich … wie schön … Und morgen kann alles vorbei sein …
»Essen ist fertig!« rief sie und winkte. »Bi Xia – der Tisch ist gedeckt.«
»Ich komme, Niang Niang!«
Er erhob sich mit Mühe. Und er fühlte Panik in sich aufsteigen.
Auf dem Tisch stand der neue Wok, es roch köstlich nach exotischen Gewürzen, und man sah Liyun die Spannung an: Wie wird es ihm schmecken? Ich habe alles gekocht nach Yunnan-Art. Mein Liebling, erinnerst du dich an das kleine Familienlokal in Dali? Und an die Wirtschaft von Xing Datong am Erhai-See? Ich habe versucht, so zu kochen wie sie … und es ist das erstemal, daß ich koche. Ich habe nie am Herd gestanden und in Töpfen gerührt, Fleisch gehackt oder Reis gekocht oder Soßen gerührt. Bi Xia, sei nicht zu streng zu mir.
Sie löffelte aus dem Wok, in dem Gemüse und Fleisch brutzelte, die Hühnerstückchen heraus und legte sie in Rathenows Eßschale. Gemüse und Reis folgten. Für jedes Gericht hatte sie eine extra Schale bereitgestellt. Liyun aß mit Stäbchen – einfachen Holzstäbchen, die man aufbrechen mußte, sie waren paarweise aus einem Stück Holz gepreßt. Holzstäbchen sind besser als die glatten Luxusstäbchen aus Horn oder Kunststoff, bemalt mit chinesischen Zeichen und bunten Blüten. An einem Holzstäbchen bleibt das Essen besser haften.
Rathenow war kaum fähig, einen Bissen zu schlucken. Aber er wußte, es wäre eine Beleidigung für Liyun zu sagen: »Ich kann nicht!« Er mußte etwas essen. Und nach dem Essen wirst du ihr alles gestehen. Wirst du ihr von deinem verpfuschten Leben erzählen.
»Bekomme ich keine Stäbchen?« fragte er und schob das Besteck zur
Weitere Kostenlose Bücher