Der Schwarze Mandarin
traditionsverhafteter Vater auf, daß sie China verlassen und in München leben wollte, in einer so fremden Welt, die er als feindselig ansah? Der Gedanke, seine Lieblingstochter jahrelang oder vielleicht nie mehr zu sehen, würde für ihn unerträglich sein und sein Haupt beugen vor Gram. Und die Mutter? Sie würde still leiden, viel weinen und ihren Schmerz in Gedichten ausdrücken. Sie hatte schon viele Gedichte geschrieben und auch Sinnsprüche in der Tradition der alten Philosophen. Überall in der Wohnung hatte sie diese Sinnsprüche an die Wände geklebt. Was würde sie schreiben, wenn Liyun für immer in Europa blieb? »Der Schmerz ist das Tor zur Erlösung«? Oder: »In die Ferne zu blicken, hellt die Nähe auf«?
Es waren Gedanken, die Liyun belasteten. Sie zwang sich, sich von diesen Gedanken loszureißen und zu denken: Es ist mein Leben! Ich bin alt genug, um mich zu entscheiden! Ich breite die Arme vor der Liebe aus und lasse mich in sie fallen. Und keiner kann mich aufhalten, kein gebeugtes Haupt und keine Tränen. Ich habe ein Recht darauf, so zu leben, daß ich glücklich bin.
Sie atmete auf, als Rathenow aus dem Haus zu ihr kam. Sie streckte beide Arme aus, umklammerte seinen Hals und hielt ihm ihr Gesicht entgegen.
»Küß mich!« sagte sie. »Küß mich sofort.« Und sie zog ihn auf die Liege über sich.
Nach vielen Zärtlichkeiten setzte sich Rathenow neben Liyun auf die Gartenliege, nahm ihre Hand und küßte die Innenfläche.
»Ich habe vorhin mit Dr. Frantzen gesprochen«, sagte er.
Sie hob den Kopf. In ihren Augen standen viele Fragen. »Was hat er gesagt?«
»Er versteht, daß du vergessen hast, ihn anzurufen.«
»Und was sagte er noch?«
»Daß du versprochen hast, in zehn Tagen zurück nach Saarbrücken zu kommen.«
»Das stimmt – aber jetzt ist alles anders geworden. Ich wußte nicht, daß du mich so liebst wie ich dich.«
»Das habe ich Dr. Frantzen gesagt.«
Sie setzte sich mit einem Ruck auf und starrte ihn entsetzt an. »Das hast du ihm gesagt? Was hast du gesagt?«
»Daß ich dich liebe – die Wahrheit.«
»Und was hat er geantwortet?«
»Er hat mir vorgerechnet, daß 33 Jahre Altersunterschied ein Irrsinn seien.«
»Was hat das mit unserer Liebe zu tun?«
»Ich habe versucht, es zu erklären, aber ich habe ihn nicht überzeugen können. Er glaubt, du seist für mich nur eine exotische Geliebte.«
Liyun legte sich wieder zurück auf das Polster und blickte in den Himmel. Ein wolkenloser Sommerhimmel, der schon die Abenddämmerung ahnen ließ. Ein Hauch von Rot überzog ihn.
»Weißt du, was Niang Niang auch noch bedeutet?« fragte sie.
»Die Schönste der Schönen.«
»Nein – die Konkubine.«
»Du bist meine Kaiserin!«
»Es gibt in unserer chinesischen Geschichte viele Konkubinen, die berühmt geworden sind. Ein Kaiser hat wegen seiner Liebe zu einer Konkubine sein Reich verloren, und weil seine Generäle es wollten, mußte er sie mit einer Seidenschnur erdrosseln lassen. Er hat das nie überwunden und wurde im Alter wahnsinnig … Tag und Nacht dachte er nur an sie und ihren Tod, der ihn rettete. Jeder in China kennt die traurige Geschichte von Kaiser Tang Min Huang und seiner Konkubine Yang Gui Fei.«
»Unsere Liebe wird immer jung und fröhlich sein. Und wenn wir einmal traurig werden, dann umarmen wir uns und wissen, daß alles andere klein und unwichtig ist und unsere Liebe jede Traurigkeit verjagt.« Er gab ihr einen Klaps auf den Po und zog sie von der Liege. »Und jetzt zieh dich an, mach dich besonders hübsch, und wir fahren zu einem ganz exklusiven Restaurant. Alle sollen sehen, daß ich eine wunderschöne Niang Niang habe!«
»Eine Konkubine.«
»Es soll bloß einer wagen, dich so zu nennen! Ich bringe ihn um.«
»Dann wirst du bald zum Massenmörder werden, denn alle deine Freunde und Bekannten werden mich ablehnen. Eine Chinesin! Die will doch nur sein Geld! Schöne Kleider, wertvollen Schmuck. Von Mao zu Guy Laroche …«
»Woher kennst du Laroche?« fragte er verblüfft.
»Am dritten Tag habe ich mit Frau Frantzen einen Bummel durch die Stadt gemacht. Und da war ein tolles Kleid im Fenster, und Frau Frantzen hat gesagt: Liyun, das ist sündteuer. Es ist von Guy Laroche. Das habe ich mir gemerkt.«
»Ab und zieh dich um.«
»Wie es Bi Xia befehlen.«
Sie rannte zum Haus zurück, blieb aber an der Tür stehen und drehte sich zu Rathenow um. »Und was ziehst du an?« rief sie.
»Einen ganz feinen, hellgrauen
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