Der Schwarze Mandarin
dritten Tag … Das kann ja in der Zukunft lustig werden.«
Er sah ihr nach. Ihr Gang, die Haltung ihres Kopfes und ihrer Schultern erinnerten ihn an ein Märchenspiel, das er als Junge gesehen hatte, versetzten ihn zurück in seine Jugendzeit und den Abend, an dem er auf dem Rang des Theaters gesessen hatte und unten auf der Bühne ein wütendes Mädchen durch einen Wald stapfte, auf der Suche nach dem Zwerg, der ihr die besten Beeren gestohlen hatte. Der Name des Stückes fiel ihm nicht mehr ein, aber er erinnerte sich genau an die Worte, die er seiner Mutter zugeflüstert hatte: »Ist denn niemand da, der ihr hilft? Ich will ihr helfen!« Und die Mutter hatte zurückgeflüstert: »Junge, das ist doch nur ein Theaterspiel. Bleib ruhig sitzen. Das Mädchen wird den Zwerg bestimmt allein finden.«
»Niang Niang!« rief er Liyun nach. Sie schüttelte den Kopf und drehte sich nicht um.
»Nein!«
»Es hat doch keinen Sinn, sich wegen der dummen Politik zu streiten.«
»Du hast damit angefangen!«
Sie blieb an der Tür stehen, aber sie öffnete sie nicht. Ein kleiner Sieg für Rathenow.
»Ich entschuldige mich!« rief er ihr zu. »Lassen wir die Frage offen, wer angefangen hat. Ich wollte noch eine Flasche Wein mit dir trinken.«
»Danke! Ich möchte mich nicht betrunken machen lassen.«
Katze!
»Wir haben etwas zu feiern.«
»Ich wüßte nicht, was wir feiern sollten.«
»Unseren ersten Streit!«
Sie warf sich herum und blitzte ihn an. Ihr Kopf reckte sich etwas nach vorn.
»Du bist gewöhnt, überall recht zu haben! Aber Recht gehört nur dem, dem das Recht zusteht! Und das bin heute ich! Sag, daß das richtig ist.«
»Es ist richtig.«
Sie kam zurück und baute sich vor ihm auf wie ein Boxer vor dem ersten Gong.
»Meinst du es ehrlich?«
»Ganz ehrlich, Niang Niang.«
»Dann steh auf!«
Rathenow gehorchte. Was kommt jetzt? dachte er. Dieses Funkeln in ihren Augen verheißt nichts Gutes. Eine Rachegöttin könnte nicht drohender wirken. Und plötzlich sprang sie ihn an, hing an seinem Nacken, überschüttete sein Gesicht mit Küssen und stammelte dabei:
»Ich bin dumm … dumm … dumm … Ich liebe dich … Laß uns nach oben gehen.«
Und wieder trug er sie die Treppe hinauf, hinein in den Himmel.
*
Min Ju saß wie immer hinter seinem den Raum beherrschenden Schreibtisch und las die neuen Zeitungen. Was sie berichteten, amüsierte ihn, vor allem die Lüge, die Polizei sei auf einer heißen Spur, die die Leser beruhigen sollte. Sie sei jetzt sicher, daß es sich bei den Morden am Chiemsee um einen Bandenkrieg handele.
Das war die einzige Wahrheit … alles andere entsprang der Phantasie der Redakteure. Die Polizei wußte gar nichts. Das Landeskriminalamt war eingeschaltet worden und hatte die Münchner Spezialisten für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität – kurz OK genannt – zu Hilfe gerufen. Sie hatten die größten Erfahrungen. Eine Sonderkommission ›Chiemsee‹ mit 16 Beamten wurde gebildet, aber man hätte sich diesen Aufwand sparen können. Peter Probst und Lutz Benicke waren sich längst einig geworden, daß sie nur einen Erfolg vorweisen konnten: Die Pathologie erhielt fünf frische Leichen, denn niemand würde einen Anspruch auf die Toten geltend machen. Die Gerichtsmediziner hatten eine lange Liste der Todesursachen aufgestellt, wann und wodurch der Tod eingetreten war, aber PP war es völlig gleichgültig, ob die Russen und Chinesen erschossen oder mit Äxten zerhackt oder aufgeschlitzt worden waren. Es war die Handschrift der Triaden, und mit diesem Wissen saß man wieder auf dem trockenen. Es gab keine Zeugen, niemand hatte etwas gehört, obwohl laut Autopsie-Bericht im Körper der Chinesen neun Kugeln vom Kaliber .357-Magnum gefunden wurden, aber sie konnten ja mit Schalldämpfer abgefeuert worden sein. Keiner erhob Anspruch auf die Leichen, sie hatten keine Verwandten, und sie waren illegal in München gewesen. Perfekter geht es nicht. Das alte, nervenraubende Warten begann … das Warten auf den Kommissar Zufall. PP sprach es voll Bitterkeit aus:
»Das ist der Anfang. Die beiden Russen aus Wessling waren eine Art Generalprobe … nun läuft der erste Akt. Ich befürchte, wir werden das Finale auch noch erleben, ohne in die Regie eingreifen zu können. Da können die Zeitungsschmierer schreien, wie sie wollen … sie sollen es besser machen! Es ist noch keinem von ihnen gelungen, einen Triaden zu interviewen. Es sei denn, er hätte Lust am Selbstmord. Ich habe
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