Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend
mit?»
«Ja.»
Wir gehen dem Hause zu. Als wir aus der Allee treten, empfängt uns ein Sprühregen, den der Wind in kurzen Stößen wie einen nassen Schleier umherfegt. Isabelle drückt sich an mich. Ich blikke den Hügel hinunter zur Stadt. Nichts ist zu sehen. Nebel und Regen haben uns isoliert. Nirgendwo sieht man mehr ein Licht, wir sind ganz allein. Isabelle geht neben mir, als gehörte sie für immer zu mir und als hätte sie kein Gewicht, und es scheint mir wieder, als habe sie wirklich keines und sei wie die Figuren in Legenden und Träumen, bei denen auch andere Gesetze gelten als im täglichen Dasein.
Wir stehen unter der Tür. «Komm!» sagt sie.
Ich schüttle den Kopf. «Ich kann nicht. Heute nicht.»
Sie schweigt und sieht mich an, gerade und klar, ohne Vorwurf und ohne Enttäuschung; aber etwas in ihr scheint auf einmal erloschen zu sein. Ich senke die Augen. Mir ist, als hätte ich ein Kind geschlagen oder eine Schwalbe getötet. «Heute nicht», sage ich. «Später. Morgen.«
Sie dreht sich wortlos um und geht in die Halle. Ich sehe die Schwester mit ihr die Treppe hinaufsteigen und habe plötzlich das Gefühl, etwas, das man nur einmal im Leben findet, unwiederbringlich verloren zu haben.
Verwirrt stehe ich herum. Was hätte ich schon tun können? Und wie bin ich in all dieses wieder hineingeraten? Ich wollte es doch nicht! Dieser verfluchte Regen!
Langsam gehe ich dem Haupthause zu. Wernicke kommt im weißen Mantel mit einem Regenschirm heraus. «Haben Sie Fräulein Terhoven abgeliefert?»
«Ja.»
«Gut. Kümmern Sie sich doch weiter etwas um sie. Besuchen Sie sie auch einmal tagsüber, wenn Sie Zeit haben.»
«Warum?»
«Darauf kriegen Sie keine Antwort», erwidert Wernicke. «Aber sie ist ruhig, wenn sie mit Ihnen zusammen war. Es ist gut für sie. Genügt das?»
«Sie hält mich für jemand anders.»
«Das macht nichts. Mir kommt es nicht auf Sie an – nur auf meine Kranken.» Wernicke blinzelt durch die Sprühnässe. «Bodendiek hat Sie heute abend gelobt.»
«Was? – Dazu hatte er wahrhafig keinen Grund!»
«Er behauptet, Sie seien auf dem Weg zurück. Zum Beichtstuhl und zur Kommunion.»
«So etwas!» erkläre ich, ehrlich entrüstet.
«Verkennen Sie die Weisheit der Kirche nicht! Sie ist die einzige Diktatur, die seit zweitausend Jahren nicht gestürzt worden ist.»
Ich gehe zur Stadt hinunter. Nebel weht seine grauen Fahnen durch den Regen. Isabelle geistert durch meine Gedanken. Ich habe sie im Stich gelassen; das ist es, was sie jetzt glaubt, ich weiß es. Ich sollte überhaupt nicht mehr hinaufgehen, denke ich. Es verwirrt mich nur, und ich bin ohnehin verwirrt genug. Aber was wäre, wenn sie nicht mehr da wäre? Würde es nicht so sein, als fehle mir das Wichtigste, das, was nie alt und verbraucht und
alltäglich werden kann, weil man es nie besitzt?
Ich komme zum Hause des Schuhmachermeisters Karl Brill. Aus der Schuhbesohlanstalt dringen die Klänge eines Grammophons. Ich bin heute abend hier zu einem Herrenabend eingeladen. Es ist einer der berühmten Abende, an denen Frau Beckmann ihre akrobatische Kunst zum besten gibt. Ich zögere einen Augenblick – ich fühle mich wahrhafig nicht danach –, aber dann trete ich ein. Gerade deshalb.
Ein Schwall von Tabaksrauch und Biergeruch empfängt mich. Karl Brill steht auf und umarmt mich, leicht schwankend. Er hat einen ebenso kahlen Kopf wie Georg Kroll, aber er trägt dafür alle seine Haare unter der Nase in einem mächtigen Walroßschnurrbart. «Sie kommen zur rechten Zeit», erklärt er. «Die Wetten sind gelegt. Wir brauchen nur bessere Musik als dieses dumme Grammophon! Wie wäre es mit dem Donauwellenwalzer?»
«Gemacht!»
Das Klavier ist bereits in die Schnellbesohlanstalt geschaf worden. Es steht vor den Maschinen. Im vorderen Teil des Raumes sind die Schuhe und das Leder beiseite geschoben worden, und überall, wo es geht, sind Stühle und ein paar Sessel verteilt. Ein Faß Bier ist aufgelegt, und ein paar Flaschen Schnaps sind schon leer. Eine zweite Batterie steht auf dem Ladentisch. Auf dem Tisch liegt auch ein großer, mit Watte umwickelter Nagel neben einem kräfigen Schusterhammer.
Ich schmettere den Donauwellenwalzer herunter. Im Qualm schwanken die Bundesbrüder von Karl Brill umher. Sie sind bereits gut geladen. Karl stellt ein Glas Bier und einen doppelten Steinhäger Schnaps auf das
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