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Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Titel: Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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das Urweib in seiner ganzen Pracht haben.»
      «Ein Ohr ist ein ziemlich großes Opfer», erklärt Otto, die schwitzende Bohnenstange, und reibt die Gläser seines Kneifers trocken.
      «Die Poesie verlangt Opfer. Du würdest mit einem abgerissenen Ohr im wahrsten Sinne ein blutdurchströmter Lyriker sein. Komm!»
      «Ja, aber ein Ohr! Etwas, was man so deutlich sieht!»
      «Wenn ich die Wahl hätte», sagt Hans Hungermann, «ich würde mir lieber ein Ohr abreißen lassen als kastriert zu werden, offen gestanden.»
      «Was?» Otto bleibt wieder stehen. «Ihr macht Witze! Das kommt doch nicht vor!»
      «Es kommt vor», erklärt Hungermann. «Leidenschaf ist zu allem fähig. Aber beruhige dich, Otto: Kastration steht unter dem Strafgesetz. Die Frau bekommt dafür mindestens ein paar Monate Gefängnis – du wirst also gerächt.»
      «Unsinn!» stammelt Bambuss, mühsam lächelnd. «Ihr macht eure blöden Witze mit mir!»
      «Wozu sollen wir Witze machen?» sage ich. «Das wäre gemein. Ich empfehle dir gerade deswegen Fritzi. Sie ist Ohrenfetischistin. Wenn die Passion über sie kommt, hält sie sich mit beiden Händen krampfaf an den Ohren ihres Partners fest. Du bist so absolut sicher, daß du nicht anderswo beschädigt wirst. Eine dritte Hand hat sie nicht.»
      «Aber noch zwei Füße», erklärt Hungermann. «Mit den Füßen verrichten sie manchmal wahre Wunder. Sie lassen die Nägel lang wachsen und schärfen sie.»
      «Ihr schwindelt», sagt Otto gequält. «Laßt doch den Un
    sinn!»
      «Hör zu», erwidere ich. «Ich will nicht, daß du verstümmelt wirst. Du würdest dann emotionell gewinnen, aber seelisch stark verlieren, und deine Lyrik würde schlecht dabei fahren. Ich habe hier eine Taschen-Nagelfeile, klein, handlich, gemacht für den adretten Lebemann, der immer elegant sein muß. Steck sie ein. Halte sie in der hohlen Hand verborgen oder verstecke sie in der Matratze, bevor es losgeht. Wenn du merkst, daß es zu gefährlich wird, genügt ein kleiner, ungefährlicher Stich in den Hintern Fritzis. Es braucht kein Blut dabei zu fließen. Jeder Mensch läßt los, wenn er gestochen wird, sogar von einer Mücke, und greif nach dem Orte des Stichs, das ist ein Grundgesetz der Welt. In der Zwischenzeit entkommst du.»
      Ich nehme ein rotledernes Taschenetui hervor, in dem ein Kamm und eine Nagelfeile stecken. Es ist noch ein Geschenk Ernas, der Verräterin. Der Kamm ist aus simuliertem Schildpatt. Eine Welle später Wut steigt in mir auf, als ich ihn herausnehme. «Gib mir auch den Kamm», sagt Otto.
      «Damit kannst du nicht nach ihr hacken, du unschuldiger Satyr», erklärt Hungermann. «Das ist keine Waffe im Kampf der Geschlechter. Er zerbricht an geballtem Mänadenfleisch.»
      «Ich will damit nicht hacken. Ich will mich nachher damit kämmen.»
      Hungermann und ich sehen uns an. Bambuss scheint uns nicht mehr zu glauben. «Hast du ein paar Verbandspäckchen bei dir?» fragt Hungermann mich.
      «Die brauchen wir nicht. Die Puffmutter hat eine ganze Apotheke.»
      Bambuss bleibt wieder stehen. «Das ist doch alles Unsinn! Aber wie ist es mit den Geschlechtskrankheiten?»
      «Es ist heute Sonnabend. Alle Damen sind heute nachmittag
    untersucht worden. Keine Gefahr, Otto.»
    «Ihr wißt alles, was?»
      «Wir wissen das, was zum Leben nötig ist», erwidert Hungermann. «Das ist gewöhnlich etwas ganz anderes, als man in Schulen und Erziehungsinstituten lehrt. Deshalb bist du so ein Unikum, Otto.»
      «Ich bin zu fromm erzogen worden», seufzt Bambuss. «Ich bin mit der Angst vor der Hölle und der Syphilis groß geworden. Wie kann man da bodenständige Lyrik entwickeln?»
      «Du könntest heiraten.»
      «Das ist mein dritter Komplex. Angst vor der Ehe. Meine Mutter hat meinen Vater kaputtgemacht. Durch nichts als Weinen. Ist das nicht merkwürdig?»
      «Nein», sagen Hungermann und ich unisono und schütteln uns darauf die Hand. Es bedeutet sieben weitere Jahre Leben. Schlecht oder gut, Leben ist Leben – das merkt man erst, wenn man gezwungen wird, es zu riskieren.
      Bevor wir in das traulich wirkende Haus mit seinen Pappeln, der roten Laterne und den blühenden Geranien am Fenster eintreten, stärken wir uns durch ein paar Schlucke Schnaps. Wir haben eine Flasche mitgebracht und lassen sie reihum gehen. Sogar Eduard, der mit seinem Opel vorgefahren ist und auf uns gewartet hat, trinkt mit; es ist selten, daß er etwas umsonst bekommt,

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