Der Schwarze Phoenix
Fingerspitzen.
Sie hatten keine weiteren Schreie und Schüsse vernommen. Jonathans Schritte hallten schuldbewusst von den Steinfliesen wider. Er fragte sich, was der geheimnisvolle Eindringling vorhatte und ob de Quincy bereits nur noch ein lebloser Körper irgendwo im Inneren des Panoptikums war. Die Leichen schienen sich hinter jeder Ecke zu stapeln. Die Verbindung zwischen James Rippers Tod und dem Verschwinden seiner Mutter kam ihm manchmal so ungewiss vor, dass er fürchtete, sie könnten mit ihren Ermittlungen jederzeit in einer Sackgasse landen. Würde er der Wahrheit jemals näher kommen als in diesem Moment?
Am Ende des Korridors leuchtete ein schwachesLicht, und er konnte erkennen, dass dahinter ein großer Raum lag. Carnegie sprang zur Seite, drückte sich an der Wand entlang und bedeutete seinen Begleitern, seinem Beispiel zu folgen. Jonathan stemmte seinen Rücken an die eiskalten Mauersteine und arbeitete sich in Richtung des Lichts vor. Neben ihm versuchte Arthur, seinen massigen Körper flach gegen die Wand zu pressen. Am Ende des Korridors spähte der Wermensch einige Sekunden lang um die Ecke, bevor er aus dem Schatten heraustrat. Jonathan blickte besorgt zu Arthur, der lediglich mit den Schultern zuckte. Sie hatten keine andere Wahl, also folgten sie Carnegie.
Zunächst sah Jonathan einen riesigen Raum. Er stand am Rand einer gigantischen Kuppel. Zahllose Gänge und Zellen an den Wänden verliehen ihr das Aussehen eines Bienenstocks. Es mussten Hunderte Zellen gewesen sein, die in langen Reihen nebeneinander und übereinander hinter Eisengittern gelegen hatten. Jonathan ließ seinen Blick schweifen, um zu sehen, ob noch jemand in einer der Zellen gefangen war, aber sie schienen alle leer zu sein. Im Erdgeschoss flackerten Fackeln im eiskalten Luftzug und erleuchteten lediglich die unteren Ebenen. Irgendwo in der Nähe der Decke deutete ein gelegentliches Zwitschern und Flügelschlagen auf die Anwesenheit von nistenden Fledermäusen hin.
In der Mitte des Raums ragte eine riesige Säule fast bis zur Decke der Kuppel auf. An der Spitze befand sich ein Beobachtungsraum mit großen vergittertenFenstern. In diesem Raum mussten die Wachen ihren Dienst versehen haben, als das Panoptikum noch mit Gefangenen gefüllt war. Jonathan nahm an, dass man von diesem Beobachtungspunkt aus in alle Zellen sehen konnte. Die gesamte Konstruktion trug dazu bei, die Atmosphäre im Gebäude noch trostloser erscheinen zu lassen.
Während Jonathan noch nach oben blickte, sah er eine Gestalt von der Spitze des Wachturms herabstürzen.
Nicholas hätte den Eindringling beinahe gar nicht bemerkt. Er war im Wachturm damit beschäftigt, einen Erpresserbrief an eine reiche Dame aus Darkside zu verfassen, die ihren Mann betrogen hatte. In den vergangenen Jahren hatte Nicholas festgestellt, dass er die Familiengeschäfte vom Panoptikum aus genauso gut führen konnte wie aus dem Zentrum der Schattenwelt. Der Beobachtungsraum war zu einem gemütlichen Arbeitszimmer umgebaut worden. Die Regale waren über und über gefüllt mit alten Briefen. Briefen, in denen wütend gedroht und energisch geleugnet wurde, deren Verfasser auf ihre vorgebliche Armut hinwiesen und darum flehten, in Ruhe gelassen zu werden. Nicholas’ Arbeitszimmer war das Epizentrum des Bösen, von dem sich Wellen der Angst und der Schuldgefühle über Darkside ausbreiteten.
Er unterzeichnete gerade schwungvoll den Brief, als er ein schwaches, metallisches Geräusch über sich auf dem Dach hörte. Nicholas legte die Feder zur Seite, ging zum Fenster und spähte durch die Gitterstäbe. Das Panoptikum war so ruhig und düster wie immer. Er wollte gerade zu seinem Schreibtisch zurückkehren, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung unter der Kuppeldecke wahrnahm. Er blickte angestrengt in die Dunkelheit und entdeckte mit Schrecken eine Gestalt, die sich an einem Seil zum Beobachtungsraum hinabhangelte. Das Geräusch, das er gehört hatte, musste von einem Haken hergerührt haben, der auf den Wachturm geworfen worden war. Wer auch immer dieser dreiste Eindringling war, er meinte es ernst. Nicholas trat vom Fenster zurück, griff in die Schreibtischschublade und zog eine Pistole hervor. Wie immer war sie gesäubert und schussbereit. Wenigstens konnte der Eindringling ihn jetzt nicht mehr überraschen. In das Panoptikum einzubrechen, war eine Sache, aber Nicholas de Quincy zur Strecke zu bringen, eine andere. Bereits vor Jahren hatte er Vorsichtsmaßnahmen getroffen
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