Der schwarze Regen
dieser Geschichten war sie das klassische Mädchen, das das Leben von der leichten Seite nimmt, ich meine, sie war schön und gewitzt. Zumindest unter der Woche, wenn sie in der Stadt war und niemand sie kontrollierte und sie ausgehen und sehen konnte, wen sie wollte. Ich bin nie mit ihr im Dorf gewesen, kann also nichts weiter sagen, aber ich begriff, dass dort alles anders war, dass dort alles wieder schwierig wurde, auch wenn ich Ihnen nicht so recht erklären kann warum.
Sie haben recht, sagte Crissanti, Sie haben recht, im Dorf ist alles schwieriger, im Dorf werden wir alle anders.
Aber er hatte keine Lust mehr, darüber zu sprechen, weil er fürchtete, das könnte sehr rasch zum Austausch von Gemeinplätzen führen, zu den unvermeidlichen Sätzen, die ihn verfolgten, so lange er denken konnte, zu neuerlichem Gerede über Rebellion und Mut, über die berühmten Banditen der Vergangenheit und Gegenwart und so weiter.
Er fürchtete, sie könnten auf ihn zu sprechen kommen, auf seinen Entschluss, Carabiniere zu werden, auf die Ermordung seines Vaters und auf all die Dinge, die ihn verfolgten, ihm auf die Nerven gingen, seit jeher, überall.
Reden wir über dieses unglückliche Mädchen, sagte er und deutete auf Martas Körper.
Schön, wenden wir uns wieder der Arbeit zu – der Mann richtete sich auf, strich sich mit der Innenseite des Arms ein kleines Büschel weißer Haare aus der Stirn – Wie groß ist ihr Mörder?
Crissanti sah ihn sofort wieder vor sich, Efisietto in Handschellen neben ihm, gut zehn Zentimeter größer als der Signor Maresciallo in der verstummten Bar, das elektrische Licht, die Trunkenbolde, stumm mit offenem Mund.
Sehr groß, erwiderte er, Etwa einen Meter achtzig, fettleibig, muskulöse Arme und Schultern. Ungefähr neunzig Kilo, würde ich sagen. Warum fragen Sie danach?
Das ist merkwürdig, sagte der Arzt und holte aus der rechten Tasche seiner alten Jeans ein Päckchen rote Marlboro, das ist wirklich merkwürdig. Haben Sie etwas dagegen, dass ich rauche, auch wenn es nicht erlaubt ist? – erneut ein schiefes, verschmitztes Lächeln – Das ist merkwürdig, denn dieses arme Mädchen ist verblutet, keiner der Schläge, die sie auf den Kopf bekommen hat, ist stark genug gewesen, um sie sofort zu töten. Dabei hat es sich zumindest in einem Fall um einen spitzen Gegenstand gehandelt, etwa die Kante eines Möbels.
Der Nachttisch, sagte Crissanti. Er war voll geronnenen Bluts.
Sehen Sie, eben darum ist es ja merkwürdig. Wenn ich mir vorstelle, dass unser Ehemann, ein Meter achtzig und neunzig Kilo, mit dieser Kleinen streitet, betrunken und vielleicht wütend, und ihren Kopf gegen den Nachttisch schlägt, ohne sie zu töten, und dann hält er sie weiter am Hals gepackt und schlägt ihren Kopf gegen die Wand, gegen den Fußboden, und trotzdem gelingt es ihm nicht, ihren Schädel zu zerschmettern?
Das ist merkwürdig, wiederholte Crissanti, das ist tatsächlich merkwürdig, und er bat den Arzt mit einer stummen Geste um eine Zigarette. Der gab ihm eine, drückte seine aus, die noch nicht zu Ende geraucht war, und zündete sich eine neue an. Auf seinem Gesicht erneut dieses Lächeln, als sei er auf den Arm genommen worden.
Sind Sie wirklich sicher, dass Sie Carabiniere sind?
Der Maresciallo nickte, aber eher mechanisch, denn er war mit seinen Gedanken inzwischen ganz woanders.
11
Zio Salvatore fühlte sich im Nutzgarten seines Vaters wohler als zu Hause. Vor allem dafür dankte er dem Leben: dass die Brüder ihm den Garten ohne Theater und Streit überlassen hatten, als er aus Hamburg zurückgekehrt war, ein Stück Land, das nicht viel wert war, gewiss, und das, um die Wahrheit zu sagen, nicht einmal dazu taugte, bestellt zu werden, nur leidlich fruchtbar, voller Steine, die weggeräumt werden mussten, voller Höhenunterschiede, die überwunden werden mussten, und der Fluss weit weg, aber der Friede, der dort herrschte, den der Alte dort wenigstens fand, wenn er breitbeinig unter dem größten Feigenbaum saß, der Friede, den er jahrelang in fernen Ländern gesucht hatte und der nie gekommen war, nicht einmal zum Schluss, als er endlich die Sprache verstanden und eine anständige Frau und eine anständige Arbeit gefunden hatte, der Friede für Augen und Gedanken, dieses Gefühl, genau an dem Ort zu sein, für den er geboren worden war, diesen Frieden fand er nur unter dem größten Feigenbaum, wenn er die Sonne durch die Zweige die Blätter sickern sah und den Wind witterte wie
Weitere Kostenlose Bücher