Der schwarze Schattenjaeger
jetzt wirklich küssen würde? Sanft auf die Lippen. Sie sind sicher ganz weich und warm. Bilder tauchen vor meinem inneren Auge auf, die ich sonst nur beim Lesen von Büchern bekomme, wenn Liebesszenen besonders eindrucksvoll beschrieben werden und ich mich an die Stelle der Buchfigur wünsche.
„Ist dir nicht kalt?“, frage ich, wage es zugleich aber nicht, mein Gesicht zu heben und ihm wieder in die Augen zu sehen. Stattdessen starre ich auf seine Brust und tue so, als sei der Reißverschluss seiner Jacke besonders interessant. Mist, ich traue mich einfach nicht! Was, wenn ich jetzt zu ihm aufblicke und er mich skeptisch ansieht, als ob er diese Nähe gar nicht möchte? Was, wenn er gemerkt hat, dass ich doch nicht sein Fall bin? Aber sicher … warum sonst hätte er mich nach Hause bringen sollen? Mein Zuhause ist keine zweihundert Meter entfernt und ich sehe bereits den Rauch aus dem Schornstein kommen. Da sind sie wieder, diese fiesen Selbstzweifel.
„Ich bin die Kälte gewöhnt. Wir arbeiten viel draußen und sind oft stundenlang auf der Jagd nach Wildtieren. Wir erlegen sie manchmal mit traditionellen Waffen, bevor wir sie auf dem Dorfplatz schlachten und essen. Mit den Kindern machen wir auch oft Abenteuerübungen oder ich führe Touristen durch den Wald. Da laufe ich oft mehr als zehn Stunden im Schnee herum und das ganz ohne solch eine angenehme Begleitung …“ Als er das sagt, muss ich sofort zu ihm aufsehen. Wirklich? Angenehme Begleitung? Ich?
Da ist dieser Moment, auf den ich so lange gewartet habe. Alle Anzeichen für meinen ersten Kuss sind da! Wir stehen eng beieinander und Valom tritt sogar noch einen Schritt auf mich zu, während er sich leicht zu mir beugt und seine Hände hebt, um sie auf meine Oberarme zu legen. Er würde es tun! Ich wusste es! Jetzt passiert es! Innerlich höre ich Fanfaren und laute Musik, als bestünde mein Unterbewusstsein aus einem Publikum, das mit Popcorn und Cola seit Stunden zusieht, wie Valom und ich uns näherkommen. Seine Augen betrachten mich mit so einer Sanftheit, dass ich mich nicht inmitten einer Schneelandschaft fühle, sondern in Kissen gebettet und mit Duftölen beträufelt. Ich kann ein Blumenfeld riechen, als sein Gesicht sich dem meinen nähert. Alles klar! Ich habe vielleicht noch zwei Sekunden, bis dahin muss alles so sein, wie ich es mir schon immer erträumt habe. Augen zu? Check! Linkes Bein leicht anwinkeln? Auch Check! Und jetzt noch den Kopf leicht zur Seite neigen, damit er ohne Störungen auf meinen Lip… Äh … Oder der Wange? Nanu? Ich spüre seine Lippen auf meiner Wange, was mir sofort eine Gänsehaut beschert, die sich über meinen gesamten Körper ausbreitet wie bei einem Dominospiel. Es ist nicht aufzuhalten. Stein für Stein fällt um und da ist es auch schon wieder vorbei. Ich blinzele vorsichtig, als ich spüre, wie Valom sich wieder von mir entfernt.
„Es hat mir viel Freude gemacht, den Tag mit dir zu verbringen. Darf ich dich in den nächsten Tagen anrufen?“, fragt er mich, während seine Hände sich von meinen Oberarmen lösen.
Was bitte war das jetzt? Gut? Schlecht? Warum hat er mich nicht auf die Lippen geküsst? War das jetzt eine freundschaftliche Verabschiedung? Warum in den nächsten Tagen und nicht heute Abend? Oder morgen? Braucht er Bedenkzeit? Mag er mich vielleicht wie eine kleine Schwester?
„Okay“, flüstere ich, da mir die Stimme versagt. Was habe ich nur falsch gemacht? Am liebsten würde ich losheulen, aber ich muss jetzt stark sein. Bloß keine Tränen vor ihm!
„Ich freue mich darauf …“, flüstert er zurück. Nur der Wind umspielt unsere Körper und einige Schneeflocken, die sich klammheimlich vom Himmel herabschleichen und zu Boden fallen. Ein letzter Blick, dann dreht er sich um und geht in Richtung Pemberton. Schritt für Schritt sehe ich zu, wie er immer kleiner wird und nur noch ein Fleck von ihm übrig bleibt, der von dem vielen Schnee verdeckt wird. Und ich stehe noch immer hier, unwissend, was ich mit diesem Kuss anfangen soll.
Die nächsten zwei Wochen vergingen so schnell, dass sie mir vorkamen wie im Vorspulmodus. Valom schickte mir nach drei Tagen eine SMS, in der er mich fragte, wie es mir geht. Irgendwie habe ich mit mehr gerechnet. Ich will auch mehr, als nur dieses oberflächliche Gerede. Warum fragt er mich nicht nach einem zweiten Date? Warum nicht? Vielleicht fühlt er sich auch schuldig, da er sich doch nicht in mich verliebt hat, und schreibt mir deswegen nicht mehr.
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