Der schwarze Schleier
kleine Angelrute wieder aus.»Keineswegs, keineswegs. Sie ist das Kind von … kurz gesagt: von niemandem.«
»Und die Frau des Barbiers hat also …?«
»Zweifellos. Wie Sie schon sagten. Die Frau des Barbiers bekommt eine kleine Summe dafür, dass sie sich um die Kleine kümmert. So und so viel im Monat. Na ja, ohne Zweifel ziemlich wenig, denn wir sind hier alle arm.«
»Sie sind nicht arm, Madame.«
»Nicht an Mietern«, erwiderte Madame Bouclet mit einem Lächeln und einer anmutigen Verneigung ihres Kopfes, »nein. Aber was alles andere angeht, geht es so, so, la, la.«
»Sie schmeicheln mir, Madame.«
»Monsieur, Sie schmeicheln mir, dass Sie bei mir wohnen.«
Während Monsieur der Engländer nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen und damit wohl andeuten wollte, dass er das von ihm gewählte Thema nur unter Schwierigkeiten wieder würde aufnehmen können, beobachtete Madame Bouclet ihn sehr genau und holte ihre zarte Angelrute erneut mit triumphalem Erfolg ein.
»O nein, Monsieur, gewiss nicht. Die Frau des Barbiers ist nicht grausam zu dem armen Kind, aber sie ist sehr achtlos. Ihre Gesundheit ist recht schwach, und sie sitzt den ganzen Tag da und schaut aus dem Fenster. Folglich war die arme kleine Bebelle, als der Korporal ins Haus kam, sehr vernachlässigt.«
»Es ist ein seltsamer …«, setzte Monsieur der Engländer an.
»Name? Bebelle? Da haben Sie wieder recht, Monsieur. Aber es ist ein Kosename für Gabrielle.«
»Das Kind ist also nur eine Laune des Korporals?«, fragte Monsieur der Engländer in knurrig verächtlichem Tonfall.
»Nun ja«, antwortete Madame Bouclet mit einem Verständnisheischenden Achselzucken, »irgendwas muss man ja lieben. Die menschliche Natur ist schwach.«
(»Verteufelt schwach«, murmelte der Engländer in seiner eigenen Sprache vor sich hin.)
»Und da der Korporal«, fuhr Madame Bouclet fort, »beim Barbier einquartiert ist, wo er wahrscheinlich lange bleiben wird, denn er ist dem General zugeordnet, und da er dort das arme Kind vorfand, das zu niemandem gehörte und das doch so sehr Zuwendung brauchte, und da er selbst lieben musste – nun, da haben Sie es!«
Monsieur der Engländer akzeptierte diese Deutung der Sachlage mit gleichgültiger Haltung und sagte später, als er wieder allein war, in recht verletztem Ton zu sich selbst: »Es würde mir nicht so viel ausmachen, wenn diese Leute nicht ein so« – hier folgte ein für seine Nation typisches Schimpfwort – »sentimentales Volk wären!«
Außerhalb der Stadt lag ein Friedhof, und in diesem sentimentalen Zusammenhang fügte es sich unglücklich für die Bewohner von Vauban, dass der Engländer an diesem Nachmittag einen Spaziergang dorthin machte. Gewiss, es waren dort einige wunderbare Dinge zu sehen (vom Gesichtspunkt des Engländers aus betrachtet), und mit Sicherheit hätte man in ganz Großbritannien nichts dergleichen gefunden. Ganz zu schweigen von den phantasievollen Schnörkeln der Herzen und Kreuze aus Holz und Eisen, die überall aufgepflanzt waren und den Friedhof wie den Ort eines Feuerwerks erscheinen ließen, an dem nach Einbruch der Dunkelheit ein großartiges pyrotechnisches Wunderwerk zu erwarten wäre, lagen auch viele Kränze auf den Gräbern, mit bestickten Schleifen wie zum Beispiel »Für meine Mutter«, »Meiner lieben Tochter«, »Meinem Vater«, »Für meinen Bruder«, »Meiner Schwester«, »Meinem Freund«, und diese vielen Kränze waren in so vielenStadien der Ausgestaltung und des Verfalls, vom Kranz von gestern mit frischen Farben und glänzenden Perlen bis zum Kranz vom Vorjahr, einem jämmerlichen, moderigen Büschel Stroh! Auf den Gräbern waren viele kleine Gärten und Grotten angelegt, in vielerlei Geschmack, mit Pflanzen und Muscheln und Gipsfiguren und Porzellankrügen und allerlei Schnickschnack! Da hingen auch viele Erinnerungszeichen, die sich selbst bei näherer Betrachtung kaum von kleinen runden Präsentiertellern unterschieden, auf denen in den leuchtendsten Farben entweder eine Dame oder ein Herr dargestellt waren, die mit einem weißen Taschentuch außerhalb jeder Proportion in einem Zustand makelloser Trauer und tiefster Betrübnis an baukünstlerisch gestalteten und prächtigen Urnen lehnten. Da waren viele hinterbliebene Gattinnen, die ihren Namen bereits auf dem Grabmal des verblichenen Ehemanns hinzugefügt hatten, mit einer Leerstelle für das Datum ihres eigenen Dahinscheidens aus dieser trübseligen Welt; und es waren viele
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