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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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hinterbliebene Gatten, die ihren verblichenen Ehefrauen den gleichen Dienst erwiesen hatten; und darunter müssen so viele gewesen sein, die inzwischen wieder geheiratet hatten! Kurz, es war dort vieles, was einem Fremden als bloßer Flitter und Tand erschienen wäre, wenn man nicht bemerkt hätte, dass selbst die leichteste Papierblüte, die auf dem ärmlichsten Erdhügel lag, niemals von einer groben Hand berührt wurde, sondern dort verging als etwas Heiliges!
    »Hier ist nichts von der Feierlichkeit des Todes zu spüren«, hatte Monsieur der Engländer gerade sagen wollen, als dieser letzte Gedanke ihn mit milder Nachsicht berührte, und so spazierte er weiter, ohne es zu sagen. »Aber diese Leute«, beharrte er zum Ausgleich, als er das Tor hinter sich gelassen hatte, »sie sind so« – wieder mit einemfür seine Nation typischen Schimpfwort ergänzt – »sentimental!«
    Sein Rückweg führte am militärischen Turnplatz vorüber. Und dort kam er am Korporal vorbei, der mit großer Zungenfertigkeit jungen Soldaten beibrachte, wie sie sich auf dem Weg zum Kriegsruhm mithilfe eines Seils über reißende und tiefe Wasserläufe schwingen konnten, und der sich selbst geschickt von einer Plattform katapultierte und einhundert oder zweihundert Fuß weit flog, um sie zum Anfangen zu ermutigen. Und dort kam er auch an der kleinen Bebelle vorüber, die auf einem erhöhten Ausguck hockte (wahrscheinlich von den vorsichtigen Händen des Korporals dort hingesetzt) und mit weit aufgerissenen runden Augen das Geschehen beobachtete wie ein verwunderter blauweißer Vogel.
    Wenn dieses Kind sterben sollte, überlegte er, als er ihm den Rücken kehrte und seines Weges ging, und das würde dem Burschen beinahe recht geschehen, weil er sich so sehr zum Narren macht – dann nehme ich an, würde er wohl auch einen Kranz und einen Präsentierteller auf diesem phantastischen Friedhof aufstellen.
    Trotzdem spazierte der Engländer nach ein, zwei weiteren frühen Morgenstunden, in denen er aus dem Fenster schaute, auf den Großen Platz, als der Korporal und Bebelle dort umhergingen, grüßte den Korporal mit einer Berührung seines Hutes (eine gewaltige Leistung) und wünschte ihm einen guten Tag.
    »Guten Tag, Monsieur.«
    »Sie haben da ein recht hübsches Kind«, sagte Monsieur der Engländer, nahm das Kinn des kleinen Mädchens in die Hand und schaute in seine verwunderten blauen Augen hinunter.
    »Monsieur, sie ist ein
sehr
hübsches Kind«, erwiderteder Korporal mit einer Betonung auf seiner höflichen Verbesserung des Satzes.
    »Und brav?«, erkundigte sich der Engländer.
    »Und sehr brav. Das arme kleine Ding!«
    »Hah!« Der Engländer beugte sich herab und tätschelte ihr die Wange, nicht ohne Verlegenheit, als ginge er in seiner Aussöhnung zu weit. »Und was für eine Medaille trägst du da um den Hals, meine Kleine?«
    Da Bebelle keine andere Antwort auf den Lippen hatte als ihre pummelige rechte Faust, bot der Korporal seine Dienste als Dolmetscher an.
    »Monsieur möchte wissen, was das ist, Bebelle?«
    »Das ist die heilige Muttergottes«, sagte Bebelle.
    »Und wer hat sie dir gegeben?«, fragte der Engländer.
    »Theophile.«
    »Und wer ist Theophile?«
    Bebelle brach in Gelächter aus, lachte fröhlich und herzlich, klatschte in die Patschhändchen und trampelte mit den kleinen Füßen auf das Steinpflaster des Platzes.
    »Er kennt Theophile nicht! Nun, dann kennt er gar niemanden! Er weiß gar nichts!« Dann, als sie merkte, dass sie einen kleinen Fauxpas begangen hatte, klammerte Bebelle ihre rechte Hand in ein bauschiges Hosenbein des Korporals, legte ihre Wange daran und küsste es.
    »Monsieur Theophile, nehme ich an?«, sagte der Engländer zum Korporal.
    »Das bin ich, Monsieur.«
    »Sie gestatten.« Monsieur der Engländer schüttelte ihm herzlich die Hand, ehe er sich wieder abwandte. Aber er nahm es sehr übel, dass der alte Monsieur Mutuel in seinem Flecken Sonnenlicht, dem er begegnete, als er sich umgedreht hatte, ihn mit abgezogener Mütze grüßte und mit erfreuter Zustimmung anschaute. Und er murmelte in seinereigenen Sprache vor sich hin, während er den Gruß erwiderte: »Nun, alte Walnussschale, was geht es
dich
an?«
    Monsieur der Engländer verbrachte viele Wochen lang verstörte Abende und schlimmere Nächte und erlebte immerzu, dass die bereits erwähnten Fenster in den Häusern der Erinnerung und der Barmherzigkeit nach Einbruch der Dunkelheit klapperten und dass er sie nur unvollkommen

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