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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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er vorsichtig einher, einmal diesen Weg hinauf, einmal einen anderen hinunter, schaute zwischen all den Kreuzen und Herzen und Säulen und Obelisken und Grabsteinennach einem kürzlich aufgegrabenen Fleckchen Erde. Der Gedanke, wie viele Tote hier auf dem Friedhof lagen, machte ihm zu schaffen – er hätte nicht gedacht, dass es auch nur der zehnte Teil davon wäre –, und nachdem er eine Zeitlang gegangen war und gesucht hatte, sagte er zu sich, während er eine neue Schneise von Grabmälern durchschritt: »Man könnte meinen, dass alle außer mir tot wären.«
    Nicht alle. Ein lebendiges Kind lag schlafend auf der Erde. Er hatte wahrhaftig etwas auf dem Grab des Korporals gefunden, an dem er es erkennen konnte, und dieses Etwas war Bebelle.
    Mit so liebevoller Hingabe hatten die Kameraden des toten Soldaten an dessen letzter Ruhestätte gearbeitet, dass sie schon jetzt ein gepflegter Garten war. Auf dem grünen Rasen dieses Gartens lag Bebelle und schlief, die Wange daran geschmiegt. Ein schlichtes, unlackiertes kleines Holzkreuz war auf dem Rasen eingepflanzt, und ihr kurzes Ärmchen hielt dieses kleine Kreuz umschlungen, wie es viele Male den Hals des Korporals umschlungen hatte. Man hatte eine winzige Flagge (die französische) ans Kopfende gesteckt und eine Lorbeergirlande hingehängt.
    Monsieur der Engländer nahm den Hut ab und stand eine Weile schweigend da. Dann bedeckte er seinen Kopf wieder, beugte sich auf ein Knie und weckte sanft das Kind.
    »Bebelle! Meine Kleine!«
    Die Augen aufschlagend, in denen noch die Tränen glänzten, war Bebelle zunächst verängstigt; aber als sie sah, wer es war, ließ sie sich von ihm in die Arme schließen und schaute ihn unverwandt an.
    »Du solltest hier nicht liegen, meine Kleine. Du musst mit mir kommen.«
    »Nein, nein. Ich kann Theophile nicht verlassen. Ich will den guten lieben Theophile.«
    »Wir gehen ihn suchen, Bebelle. Wir gehen ihn in England suchen. Wir gehen ihn bei meiner Tochter suchen, Bebelle.«
    »Und werden wir ihn dort finden?«
    »Wir werden den besten Teil von ihm dort finden. Komm mit mir, du arme, verlorene Kleine. Der Himmel soll mein Zeuge sein«, murmelte der Engländer mit leiser Stimme, als er, ehe er sich aufrichtete, den Rasen über der Brust des sanftmütigen Korporals berührte, »dass ich dankbar diese Vormundschaft übernehme.«
    Es war eine weite Strecke, die das Kind ohne Hilfe zurückgelegt hatte. Schon bald war das Mädchen wieder eingeschlafen und hatte ihre Umarmung nun auf den Hals des Engländers übertragen. Der schaute auf ihre zerschlissenen Schuhe, ihre geschundenen Füße und ihr müdes Gesicht und überlegte, dass sie wohl jeden Tag hierhergekommen war.
    Er wollte gerade das Grab mit der schlummernden Bebelle in den Armen verlassen, als er sich noch einmal hinabbeugte, traurig auf die Ruhestätte und dann auf die anderen Gräber ringsum blickte. »Es ist der unschuldige Brauch dieser Leute«, sagte Monsieur der Engländer mit einigem Zögern. »Ich denke, ich würde es gern machen. Es sieht ja niemand.«
    Sorgfältig darauf bedacht, Bebelle nicht zu wecken, begab er sich zum Pförtnerhäuschen, wo derlei kleine Erinnerungszeichen verkauft wurden, und erstand zwei Kränze. Einen blauweißen mit glitzerndem Silber »Für meinen Freund« und einen nüchterneren in Rot, Schwarz und Gold »Für meinen Freund«. Mit diesen ging er zum Grab zurück und beugte sich erneut auf ein Knie hinunter. Nachdem er mit dem strahlenderen Kranz die Lippen des Kindes berührt hatte, führte er die Hand der Kleinen, um ihn auf dasKreuz zu hängen; dann hängte er auch seinen Kranz dorthin. Eigentlich passten die Kränze recht gut zu dem kleinen Garten. Für meinen Freund. Für meinen Freund.
    Monsieur der Engländer nahm es sehr übel, dass, als er gerade um die Straßenecke auf den Großen Platz einbog und Bebelle auf den Armen trug, der alte Mutuel gerade wieder sein rotes Ordensband ausführte. Er gab sich unendliche Mühe, dem ehrenwerten Mutuel zu entgehen, und es kostete ihn überraschend viel Zeit und Aufwand, in sein Wohnhaus zu schleichen, als wäre er ein Mann, dem das Gesetz auf den Fersen ist. Endlich glücklich dort eingetroffen, machte er Bebelles Toilette so genau wie möglich nach der Erinnerung, wie er den Korporal dabei oft beobachtet hatte, und, nachdem er ihr zu essen und zu trinken gegeben hatte, legte er sie in sein eigenes Bett. Dann schlich er aus dem Zimmer und begab sich zum Barbierladen, und nach einer kurzen

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