Der schwarze Schleier
Sanftmut, weil er diese Tugend mit Schwäche verwechselte. War er heftig und zornig, wenn man ihn verärgerte? Sehr, und außergewöhnlich ungerecht. Launisch? Übertrieben launisch. Rachsüchtig? Nun, er hatte den finsteren Gedanken gehegt, dass er seine Tochter in aller Form verfluchen sollte, wie er es öfter auf der Bühne gesehen hatte. Aber da er sich daran erinnerte, dass der wirkliche Himmel einige Schritte von dem vorgetäuschten Himmel im großen Kronleuchter des Theaters entfernt ist, hatte er das aufgegeben.
Und er war ins Ausland gegangen, um sich seine verstoßene Tochter ein für alle Male vom Leib zu schaffen. Und da war er nun.
Im Grunde war dies mehr als alles andere der Grund dafür, dass Monsieur der Engländer es so übelnahm, dass Korporal Theophile der kleinen Bebelle, dem Kind im Barbierladen, so zärtlich zugetan war. In einem unglücklichen Augenblick hatte er zufällig zu sich gesagt: »Nun, der Bursche soll verdammt sein, er ist nicht einmal ihr Vater!« Diese Aussage versetzte ihm plötzlich einen scharfen Stich, der seine Laune noch verschlechterte. Also hatte er dem Korporal, dem das natürlich völlig unbewusst war, von ganzemHerzen und mit allem Nachdruck das für seine Nation typische Schimpfwort verpasst und für sich beschlossen, nicht mehr über einen solchen Prahlhans nachzudenken.
Aber es ergab sich, dass er den Korporal einfach nicht los wurde. Hätte der Korporal die zartesten Fasern im Herzen des Engländers gekannt, anstatt rein gar nichts über ihn zu wissen, und wäre er der starrsinnigste Korporal der Großen Französischen Armee gewesen, anstatt der zuvorkommendste zu sein, er hätte sich nicht mit entschlossenerer Unverrückbarkeit mitten in alle Gedanken des Engländers pflanzen können. Nicht nur das, er schien ihm auch ständig unter die Augen zu kommen. Monsieur der Engländer musste nur aus dem Fenster schauen, um sogleich den Korporal mit der kleinen Bebelle zu erblicken. Er brauchte nur zu einem Spaziergang aufzubrechen, und schon spazierte da vor ihm der Korporal mit Bebelle. Er musste nur angewidert nach Hause zurückkehren, da waren der Korporal und Bebelle bereits vor ihm daheim. Schaute er früh am Morgen aus dem hinteren Fenster, war da der Korporal auf dem Hinterhof des Barbiers und wusch und kleidete und bürstete Bebelle. Wenn er Zuflucht an seinem vorderen Fenster suchte, brachte der Korporal gerade sein Frühstück auf den Großen Platz und teilte es dort mit Bebelle. Immer der Korporal und immer Bebelle. Niemals der Korporal ohne Bebelle. Niemals Bebelle ohne den Korporal.
Die französische Sprache als Mittel mündlicher Verständigung war nicht gerade die Stärke von Monsieur dem Engländer, obwohl er sie gut lesen konnte. Mit den Sprachen ist es wie mit den Menschen – wenn man sie nur vom Sehen kennt, missversteht man sie leicht einmal; man muss mit ihnen reden, ehe man behaupten kann, Bekanntschaft geschlossen zu haben.
Aus diesem Grunde musste Monsieur der Engländer seine Lenden mit viel Mut schürzen, ehe er sich dazu durchringen konnte, mit Madame Bouclet einen Gedankenaustausch über diesen Korporal und diese Bebelle zu wagen. Aber als Madame Bouclet eines Morgens mit einer Entschuldigung bei ihm hereinschaute, um anzumerken, dass sie, o Himmel!, völlig verzweifelt war, weil der Lampenmacher die ihm zur Reparatur anvertraute Lampe noch nicht zurückgeschickt hatte, dass er aber wirklich ein Lampenmacher war, den die ganze Welt beschimpfte, packte Monsieur der Engländer die Gelegenheit beim Schopf.
»Madame, dieses Kind.«
»Pardon, Monsieur. Diese Lampe.«
»Nein, nein, dieses kleine Mädchen.«
»Aber Pardon!«, sagte Madame Bouclet, die verzweifelt nach dem Faden des Gesprächs angelte, »man kann doch ein kleines Mädchen nicht anzünden oder es zur Reparatur schicken?«
»Das kleine Mädchen – im Haus des Barbiers.«
»Ah!«, rief Madame Bouclet, die plötzlich die Idee mit ihrer kleinen Angelrute eingefangen hatte. »Die kleine Bebelle? Ja, ja, ja! Und ihr Freund der Korporal? Ja, ja, ja! Das ist wirklich nobel von ihm, nicht wahr?«
»Er ist nicht …?«
»Überhaupt nicht, überhaupt nicht! Er ist nicht mit ihr verwandt. Überhaupt nicht!«
»Warum ist er dann …«
»Genau!«, bekräftigte Madame Bouclet, »Sie haben ja so recht, Monsieur. Es ist so nobel von ihm. Je weniger verwandt, desto nobler. Wie Sie schon sagten.«
»Ist sie …?«
»Das Kind des Barbiers?« Madame Bouclet warf schwungvoll ihre geschickte
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