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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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die schöne Parfümeursgattin auf die Straße trat und mit einer Nachbarin plauschte oderähnliches, und der mit einem Lachen Seife verkaufte, während er sein Kriegsschwert noch umgegürtet hatte? War da nicht Emile, der beim Uhrmacher einquartiert war und jeden Abend, nachdem er seinen Rock abgelegt hatte, das gesamte Sortiment aufzog? War da nicht Eugène, der beim Blechschmied einquartiertwar und, das Pfeifchen im Mund, für den Blechschmied auf dem kleinen Hof hinter dem Laden einen Garten von vier Fuß im Quadrat beackerte und aus diesem auf den Knien und im Schweiße seines Angesichts die Früchte der Erde erntete? Um die Beispiele nicht zu sehr auszuweiten, war da nicht Baptiste, der bei dem armen Wasserträger einquartiert war und just in diesem Augenblick auf dem Gehsteig in der Sonne saß, seine Kriegerbeine weit gespreizt und einen der überzähligen Eimer des Wasserträgers dazwischen gestellt hatte, den er (zum Entzücken und Herzerwärmen des Wasserträgers, der, unter seinem Joch beladen, vom Brunnen über den Großen Platz herbeikam) außen leuchtend grün und innen leuchtend rot anstrich? Oder, um nur zum Barbier nebenan zu gehen, war da nicht Korporal Theophile …
    »Nein«, sagte Monsieur der Engländer, der zum Barbier hinabschaute, »der ist im Augenblick nicht da. Aber das Kind wohl.«
    Ein kleines Persönchen von einem Mädchen stand auf den Stufen des Barbierladens und schaute über den Platz. Man könnte sagen, ein Kleinkind mit der engen weißen Leinenhaube, die kleine französische Kinder auf dem Land tragen (wie die Kinder auf den niederländischen Gemälden), und in einem Kleidchen aus schlichtem Blau, das keinerlei Form besaß, außer an der Stelle, wo man es an seinem molligen kleinen Hals gebunden hatte und worüber ganz adrett der Kopf saß.
    »Aber das Kind wohl.«
    Danach zu urteilen, wie die pummelige kleine Hand mit den Grübchen über die Augen wischte, waren diese gerade noch zu einem Nickerchen geschlossen gewesen und noch nicht lange wieder geöffnet. Aber sie schienen so aufmerksam über den Platz zu schauen, dass der Engländer den Blick in die gleiche Richtung lenkte.
    »Oh«, sagte er dann. »Ich habe es mir schon gedacht. Der Korporal ist da.«
    Der Korporal, ein schneidiges Mannsbild von dreißig, vielleicht einen Hauch kleiner als mittelgroß, aber von sehr gefälliger Erscheinung – ein sonnenverbrannter Korporal mit einem braunen Spitzbart –, machte gerade kehrt und richtete geläufige Anweisungen an den von ihm geführten Trupp. An dem Korporal war wirklich nichts auszusetzen. Ein geschmeidiger, wendiger Korporal, recht vollkommen von den blitzenden dunklen Augen unter seiner bedeutungsvollen Uniformmütze bis zu den blitzend weißen Gamaschen. Er war das Bild und die Verkörperung eines Korporals in der Armee seines Landes, in der Linie seiner Schultern, der Linie seiner Taille, der breitesten Linie seiner weit gebauschten Hose und ihrer schmalsten Linie an der Wade seines Beins.
    Monsieur der Engländer schaute zu, und das Kind schaute zu, und der Korporal schaute zu (Letzterer jedoch seinen Männern), bis der Drill wenige Minuten später beendet war und das militärische Rinnsal sofort eintrocknete und schnell fort war. Dann sagte Monsieur der Engländer zu sich: Schau nur! Beim Zeus! Und der Korporal, der mit weit ausgebreiteten Armen auf den Barbierladen zulief, packte das Kind, hob es hoch über seinen Kopf, dass es zu fliegen schien, ließ es wieder herunter, küsste es und verschwand mit ihm im Haus des Barbiers.
    Nun hatte Monsieur der Engländer mit seiner vom rechten Weg abgekommenen, ungehorsamen und enterbten Tochter einen üblen Streit gehabt, und auch in diesem Fall gab es ein Kind. War seine Tochter kein Kind gewesen und war sie nicht so über seinem Kopf geflogen wie dieses Mädchen über dem Kopf des Korporals?
    »Er ist ein« – hier folgte ein für seine Nation typischesSchimpfwort – »Narr!«, rief der Engländer aus und schloss sein Fenster.
    Aber die Fenster im Haus der Erinnerung und die Fenster im Haus der Barmherzigkeit lassen sich nicht so leicht schließen wie Fenster aus Glas und Holz. Sie fliegen unerwartet auf, sie klappern nachts, sie müssen zugenagelt werden. Monsieur der Engländer hatte versucht, sie zuzunageln, aber die Nägel vielleicht nicht tief genug hineingetrieben. Also verbrachte er einen verstörten Abend und eine noch schlimmere Nacht.
    War er von Natur aus ein sanftmütiger Mann? Nein, er besaß nur sehr wenig

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