Der schwarze Schleier
besser einen Blick darauf werfen, was man
wirklich
von mir annimmt.
Man nimmt an, wenn ich mich nicht irre – und die versammelten Mitglieder unserer Familie werden mich verbessern, falls ich mich irre, was wahrscheinlich ist (hier blickte sich der arme Verwandte in Erwartung eines Widerspruchs freundlich um) –, dass ich niemandes Feind bin, nur mein eigener. Dass ich niemals in irgendeiner Sache besonderen Erfolg hatte. Dass ich im Geschäft versagt habe, weil ich nicht geschäftstüchtig und zu leichtgläubig bin – da ich nicht auf die selbstsüchtigen Interessen meines Partners vorbereitet war. Dass ich in der Liebe versagt habe, weil ich lächerlich vertrauensselig war – da ich es für unmöglich hielt, dass Christiana mich hintergehen könnte. Dass ich die Erwartungen meines Onkels Chill enttäuscht habe, weil ich in weltlichen Angelegenheiten nicht so scharfsinnig war, wie er es sich gewünscht hätte. Dass ich im ganzen Leben im Allgemeinen eher ausgenutzt und enttäuscht wurde. Dass ich im Augenblick ein Junggeselle zwischen neunundfünfzig und sechzig Jahren bin, von einem beschränkten Einkommen in Form einer vierteljährlichen Zuwendung lebe, auf die, das habe ich begriffen, ich auf den Wunsch Johns, unseres geschätzten Gastgebers, nicht weiter eingehen werde.
Die Annahmen bezüglich meiner gegenwärtigen Unternehmungen und Gewohnheiten sind folgende:
Ich bewohne eine Unterkunft in der Clapham Road – ein sehr reinliches Hinterzimmer in einem sehr ehrbaren Haus –, wo man von mir erwartet, dass ich tagsüber nicht zu Hause bin, es sei denn, ich bin krank, und die ich gewöhnlich am Morgen um neun Uhr unter der Vorgabe verlasse, ins Geschäft zu gehen. Ich nehme mein Frühstück – mein Brötchen mit Butter und meinen Viertelliter Kaffee– in dem alteingesessenen Café bei der Westminster Bridge ein; und dann gehe ich in die City – ich weiß nicht, warum – und sitze in Garraways’s Coffee House und bei der Börse und spaziere herum und schaue in einigen Kanzleien und Kontoren vorbei, in denen einige meiner Verwandten oder Bekannten die Güte haben, meine Anwesenheit zu dulden, und wo ich am Kaminfeuer stehe, falls das Wetter zufällig kalt ist. So vertreibe ich mir den Tag bis fünf Uhr, und dann esse ich zu Abend: im Durchschnitt zum Preis von einem Shilling und Threepence. Da mir dann noch ein wenig Geld für die abendliche Unterhaltung bleibt, schaue ich auf dem Heimweg erneut in dem alteingesessenen Café vorbei und nehme eine Tasse Tee und vielleicht ein Stückchen Toast zu mir. Und dann mache ich mich, wenn der große Zeiger der Uhr sich auf die Morgenstunde zubewegt, wieder auf den Weg zur Clapham Road, wo ich unverzüglich zu Bett gehe, sobald ich meine Unterkunft erreicht habe – da ein Kaminfeuer teuer ist und von der Familie wegen der damit verbundenen Mühe und dem erzeugten Schmutz nicht gern gesehen wird.
Manchmal hat einer meiner Verwandten oder Bekannten die Güte, mich zum Abendessen einzuladen. Das sind festliche Anlässe, und dann gehe ich im Allgemeinen im Park spazieren. Ich bin ein Einzelgänger und gehe selten mit jemandem spazieren. Nicht, dass man mich meidet, weil ich schäbig aussehe; denn ich sehe überhaupt nicht schäbig aus, da ich immer einen sehr guten schwarzen Anzug trage (oder vielmehr einen Anzug in Pfeffer und Salz, was schwarz wirkt, sich aber viel besser trägt); aber ich habe mir angewöhnt, leise zu sprechen, und ich bin ohnehin recht still, und mein Temperament ist nicht sehr übermütig, und ich bin mir bewusst, dass ich keine sonderlich anziehende Gesellschaft bin.
Die einzige Ausnahme von dieser allgemeinen Regel ist das Kind meines ersten Vetters, der kleine Frank. Ich hege eine besondere Zuneigung zu diesem Kind, und der Bub mag mich auch gern. Er ist von Natur aus ein zurückhaltender Junge; in einer Menschenmenge wird er leicht niedergeredet, wenn ich das so sagen darf, und gleich vergessen. Er und ich kommen jedoch außerordentlich gut miteinander aus. Ich hege den Gedanken, dass das arme Kind mir irgendwann in meiner seltsamen Stellung in der Familie nachfolgen wird. Wir reden nur wenig; und doch verstehen wir einander. Wir spazieren Hand in Hand umher; und ohne viele Worte weiß er, was ich meine, und ich weiß, was er meint. Als er noch sehr klein war, habe ich ihn zu den Fenstern der Spielwarenläden mitgenommen und ihm die Spielzeuge da drinnen gezeigt. Es ist überraschend, wie schnell er herausfand, dass ich ihm ungeheuer viele
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