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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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ich an, ist eine Art kindlicher Liebe in mir gewachsen. Ich fühlte mich in gewisser Weise nobler und war stolz darauf,dass ich das Mädchen beschützte – stolz, dass ich dieses Opfer für sie brachte. Während mein Herz mit diesem neuen Gefühl anschwoll, wurde es kaum merklich auch milder gegen Mutter und Vater gestimmt. Zuvor schien es zu Eis erstarrt gewesen zu sein, und nun taute es auf. Die alte Ruine und all die wunderschönen Dinge, die es heimsuchten, waren nicht nur meinetwegen betrübt, sondern um meiner Mutter und meines Vaters willen. Deswegen weinte ich wieder, und zwar oft.
    Die Bauernfamilie hielt mich für einen mürrischen Burschen und behandelte mich sehr barsch, obwohl sie mit den Essensbrocken, die ich außerhalb der Mahlzeiten bekommen konnte, nie knausrig war. Eines Abends, als ich zur gewohnten Zeit den Riegel der Küchentür anhob, war Sylvia (das war der hübsche Name des Mädchens) gerade eben erst aus dem Raum gegangen. Als ich sie die Treppe gegenüber hinaufsteigen sah, blieb ich stockstill neben der Tür stehen. Sie hatte aber das Geräusch des Riegels gehört und schaute sich um.
    »George«, rief sie mir mit erfreuter Stimme zu, »morgen ist mein Geburtstag, und es wird ein Fiedler spielen, und eine Gruppe von Jungen und Mädchen kommt in einem Wagen, und wir werden tanzen. Ich lade dich ein. Sei doch ausnahmsweise einmal gesellig, George.«
    »Es tut mir sehr leid, Miss«, antwortete ich, »aber ich – aber nein, ich kann nicht kommen.«
    »Du bist ein unangenehmer, schlecht gelaunter Bursche«, erwiderte sie verächtlich, »und ich hätte dich gar nicht fragen sollen. Ich werde nie wieder mit dir sprechen.«
    Als ich da stand und aufs Feuer starrte, nachdem sie verschwunden war, merkte ich, dass mich der Bauer stirnrunzelnd anblickte.
    »Eh, Bürschchen!«, rief er. »Sylvy hat recht. Du bist derlaunischste und mürrischste Bursche, den ich je zu Gesicht bekommen habe.«
    Ich versuchte ihm zu versichern, dass ich es nicht böse meinte, aber er sagte nur kühl: »Vielleicht nicht, vielleicht nicht. Da, hol dir dein Abendessen, hol dir dein Abendessen, und dann kannst du wieder nach Herzenslust schmollen.«
    Ah, wenn sie mich nur am nächsten Tag in der Ruine hätten sehen können, wie ich nach der Ankunft des Wagens voller fröhlicher junger Gäste Ausschau hielt; wenn sie mich am Abend hätten sehen können, wie ich hinter der gespenstischen Statue hervorkroch und der Musik und dem Trappeln tanzender Füße lauschte und die hell erleuchteten Fenster des Bauernhauses beobachtete, als es überall in der Ruine schon finster war; wenn sie in meinem Herzen hätten lesen können, als ich mich die Hintertreppe hinaufstahl und mich mit dem Gedanken tröstete: Sie werden von mir nichts Schlimmes bekommen – dann hätten sie mich nicht für eine mürrische und ungesellige Natur gehalten.
    Auf diese Weise begann ich ein schüchterner Mensch zu werden, eine ängstliche, stille Natur, die leicht missverstanden wurde; ich begann eine unerklärliche, vielleicht krankhafte Furcht zu entwickeln, mich jemals niederträchtig oder selbstsüchtig zu verhalten. So formte sich mein Wesen, noch bevor die Einflüsse eines fleißigen und zurückgezogenen Lebens als armer Schüler und Gelehrter darauf zu wirken anfingen.
    Kapitel 6
    Bruder Hawkyard (wie ich ihn auf seinen ausdrücklichen Wunsch nennen musste) schickte mich in eine Schule und sagte mir, ich müsste meinen Unterhalt verdienen. »Dir geht es gut, George«, sagte er. »Ich bin der beste Diener, den der Herr nun seit fünfundzwanzig Jahren hat (o ja, das bin ich!), und er weiß um den Wert eines solchen Dieners, wie ich ihm einer gewesen bin (o ja, das weiß er), und er wird dir bei deiner Bildung Erfolg bescheren, als Teil meiner Belohnung. Das wird er tun, George. Er wird es für mich tun.«
    Von Anfang an wollte mir dieses vertraute Wissen nicht gefallen, das Bruder Hawkyard über die Wege des Allerhöchsten, unergründlichen Allmächtigen zu besitzen behauptete. Als ich ein bisschen klüger und dann noch ein bisschen klüger geworden war, gefiel es mir noch weniger. Auch seine Angewohnheit, sich ständig in Parenthesen zu bestätigen – als hätte er, da er sich gut kannte, Zweifel an seinen eigenen Worten bekommen –, fand ich abscheulich. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich diese Abneigungen mitnahmen, denn ich fürchtete, dass sie selbstsüchtig waren.
    Nach einiger Zeit wurde ich Stipendiat einer guten Stiftung und kostete Bruder

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