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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Bruder Gimblet.)
    »Und die Frage ist die: Sind die Engel gebildet und klug?«
    (»Die doch nicht! Kein bisschen!«, kam mit größter Sicherheit von Bruder Gimblet.)
    »Die nicht! Und was ist der Beweis? Der wurde uns fix und fertig vom gütigen Herrn hergeschickt. Nun, unter uns ist heute jemand, der alle Bildung besitzt, die man nur in ihn hineinstopfen konnte. Ich habe ihm all die Bildung verschafft, die man nur in ihn hineinstopfen konnte. Sein Großvater« – das hatte ich noch nie zuvor gehört – »war einer unserer Brüder. Er war Bruder Parksop. Der war er. Parksop. Bruder Parksop. Sein weltlicher Name war Parksop, und er war ein Bruder unserer Bruderschaft. War er also nicht Bruder Parksop?«
    (»Musste er sein. Konnte er nichts dran ändern!«, kam von Bruder Gimblet.)
    »Nun, er hinterließ den hier jetzt unter uns Anwesenden in der Obhut eines Brudersünders (und dieser Brudersünder, müsst ihr wissen, war zu seiner Zeit ein größerer Sünder als irgendwer sonst unter euch, der Herr sei gepriesen!), Bruder Hawkyard. In meiner Obhut. Ich habe ihn ohne Lohn oder Belohnung bekommen – ohne ein Krümelchen Myrrhe oder Weihrauch, schon gar nicht Gold, noch vielweniger Honigwaben – und ihm all die Bildung verschafft, die man in ihn hineinstopfen konnte. Aber hat ihn das im Geiste in unseren Tempel gebracht? Nein. Haben wir nicht inzwischen unwissende Brüder und Schwestern in unsere Mitte aufgenommen, die ein rundes O nicht von einem krummen S unterscheiden können? Viele. Dann folgt daraus, dass die Engel
nicht
gebildet und klug sind, dass sie nicht einmal das Alphabet kennen . Und nun, meine Freunde und Mitsünder, nachdem ich es so weit erklärt habe, ist einer der anwesenden Brüder – vielleicht Ihr, Bruder Gimblet – bereit, ein wenig für uns zu beten?«
    Bruder Gimblet übernahm dieses heilige Amt, nachdem er sich mit dem Ärmel über den Mund gewischt und gemurmelt hatte: »Na gut! Ich weiß ja auch nicht, ob ich jemand von euch an der richtigen Stelle treffen werde.« Das sagte er mit einem finsteren Lächeln und begann zu brüllen. Wovor wir besonders errettet werden sollten, laut seinen Anrufungen, war das Berauben von Waisen, die Unterdrückung testamentarischer Bestimmungen vonseiten eines Vaters oder (sagen wir mal) Großvaters, die betrügerische Aneignung des Hausbesitzes dieses Waisenknaben, die Täuschung, dass wir vorgaben, aus christlicher Nächstenliebe dem Beraubten Gutes zu tun, dem wir sein Erbe vorenthalten hatten, und andere Sünden dieser Art. Er endete mit dem Anruf: »Gib uns Frieden!«, was, zumindest meiner Meinung nach, nach zwanzig Minuten seines Gebrülls bitter nötig war.
    Obwohl ich nicht gesehen hatte, wie er, als er sich, vor Schweiß triefend, von den Knien erhob, Bruder Hawkyard anschaute, und obwohl ich den Ton in Bruder Hawkyards Stimme nicht gehört hatte, als er ihm zur Macht seines Gebrülls gratulierte, hätte ich doch aus diesem Gebet eine boshafte Absicht heraushören müssen. Es war mir manchmalin meinen ersten Zeiten in der Schule vage ein Verdacht ähnlicher Art durch den Kopf gegangen und hatte mir stets großen Kummer bereitet, denn dieser Verdacht war ja gänzlich selbstsüchtiger Art und weit, weit von jener Geisteshaltung entfernt, die mich von Sylvia ferngehalten hatte. Es war ein hässlicher Verdacht ohne auch nur den Hauch eines Beweises. Er war es wert, in dem grausigen Keller entstanden zu sein. Es mangelte ihm nicht nur an jedem Beweis, sondern er widersprach jedem Beweis, denn war ich selbst nicht der lebendige Beweis für alles, was Bruder Hawkyard getan hatte? Und ohne ihn, wie hätte ich je in Hoghton Towers den Himmel traurig auf den unglücklichen Jungen herabblicken sehen?
    Obwohl die Furcht, in den Zustand wilder Selbstsucht zurückzufallen, in mir nicht mehr so stark war, als ich mich dem Mannesalter näherte, und obwohl ich zunehmend für mich selbst einstehen konnte, war ich doch stets auf der Hut gegen jede Neigung zu einem solchen Rückfall. Nachdem man mir diesen Verdacht wieder vor die Füße geworfen hatte, hatte es mich sehr bekümmert, dass es mir nicht gelang, Bruder Hawkyards Gebaren oder die Religion, zu der er sich bekannte, zu mögen. Und so kam es, dass ich mir, als ich an jenem Sonntagabend zurückwanderte, überlegte, es wäre doch eine Abbitte für jegliches Unrecht, das meine irregeleiteten Gedanken ihm unwillentlich getan hatten, wenn ich ihm schriebe und, ehe ich ins College ging, in einem Brief seine Güte

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