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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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und meine Ohren waren offen für ihr Läuten, aber so wahr ich lebe, sie hat
nicht
geläutet. Nein, auch zu keiner anderen Zeit, außer wenn sie im natürlichen Ablauf physikalischer Vorgänge von einer Station angeläutet wurde, die sich mit Ihnen in Verbindung setzen wollte.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mich darin noch nie geirrt, Sir. Ich habe nie das Läuten des Gespenstes mit dem eines lebendigen Menschen verwechselt. Das Geisterläuten ist eine seltsame Schwingung in der Glocke, die sonst nichts auszulösen vermag, und ich habe noch nicht festgestellt, dass diese dem Auge sichtbar ist. Es wundert mich nicht, dass Sie es nicht gehört haben. Ich aber habe es gehört.«
    »Und schien das Gespenst da zu sein, als Sie hinausblickten?«
    »Es
war
da.«
    »Beide Male?«
    Er antwortete mit Bestimmtheit: »Beide Male.«
    »Kommen Sie jetzt mit mir zur Tür und halten Ausschau nach ihm?«
    Er biss sich auf die Unterlippe, als wollte er das lieber nicht tun, erhob sich aber. Ich öffnete die Tür und stand aufder Eingangsstufe, während er in der Türöffnung stehen blieb. Da war das Notsignal. Da war der düstere Tunneleingang. Da waren die hohen, nassen Felswände des Bahneinschnitts. Und da waren die Sterne darüber.
    »Sehen Sie es?«, fragte ich ihn und beobachtete dabei sein Gesicht ganz genau.
    Seine Augen traten hervor vor Anstrengung, aber vielleicht nicht mehr als die meinen, während ich den Blick angelegentlich auf den gleichen Fleck gerichtet hatte.
    »Nein«, antwortete er. »Es ist nicht da.«
    »Einverstanden«, meinte ich.
    Wir gingen wieder hinein, schlossen die Tür und setzten uns hin. Ich überlegte, wie ich am besten meinen Vorteil nutzen konnte, wenn es denn einer war, als er in einer so nüchternen und sachlichen Art das Gespräch wieder aufnahm, als ginge er davon aus, dass es zwischen uns keinen ernstlichen Disput über die Fakten geben konnte, sodass ich mich auf einmal in der schwächsten Position befand.
    »Inzwischen haben Sie sicher vollkommen begriffen, Sir«, meinte er, »dass das, was mich so furchtbar beunruhigt, die Frage ist: Was bedeutet das Gespenst?«
    Ich sei nicht sicher, erwiderte ich ihm, ob ich das vollkommen begriffen hätte.
    »Wovor warnt es mich?«, fügte er nachdenklich hinzu, hielt die Augen auf das Kaminfeuer gerichtet und wandte sie nur manchmal mir zu. »Was ist die Gefahr? Wo ist die Gefahr? Irgendwo an der Strecke lauert Gefahr . Ein schreckliches Unglück wird geschehen. Ein drittes Mal ist es nicht zu bezweifeln, nach allem, was sich bisher ereignet hat. Aber gewiss ist es doch grausam, wie es mich heimsucht. Was soll ich nur machen?«
    Er zog sein Taschentuch hervor und wischte sich die Schweißperlen von der heißen Stirn.
    »Wenn ich ›Gefahr‹ telegraphiere, in einer oder in beide Richtungen, dann kann ich keinen Grund dafür angeben«, fuhr er fort und wischte sich die Handflächen. »Ich würde in Schwierigkeiten geraten und nichts ausrichten. Sie würden mich für verrückt halten. Ich denke, es würde etwa so ablaufen: Meldung: ›Gefahr! Achtung!‹ Antwort: ›Welche Gefahr? Wo?‹ Meldung: ›Ich weiß es nicht. Aber um Gottes willen Vorsicht!‹ Sie würden mich versetzen. Was sonst könnten sie machen?«
    Die Qualen seines Geistes waren außerordentlich erbarmungswürdig anzusehen. Es war die seelische Marter eines gewissenhaften Mannes, den eine unzumutbare Verantwortung für das Leben anderer bis zum Äußersten bedrückte.
    »Als das Gespenst zum ersten Mal unter dem Notsignal stand«, fuhr er fort, strich sich das dunkle Haar aus der Stirn zurück und rieb sich in einer Geste äußerster, fieberhafter Qual wieder und wieder die Schläfen, »warum hat es mir da nicht gesagt, wo der Unfall sich ereignen würde – wenn er denn geschehen musste? Warum hat es mir nicht mitgeteilt, wie man ihn verhindern konnte – wenn er denn verhindert werden konnte? Als es beim zweiten Erscheinen sein Gesicht verbarg, warum hat es mir stattdessen nicht gesagt: ›Sie wird sterben. Sie sollen sie zu Hause festhalten.‹? Wenn es bei diesen beiden Gelegenheiten nur gekommen ist, um mir zu zeigen, dass seine Warnung zutraf, und mich so auf die dritte vorzubereiten, warum warnt es mich nun nicht deutlicher? Oh, der Herr stehe mir bei! Einem armen Signalwärter an diesem einsamen Posten! Warum geht es nicht zu jemandem, der so vertrauenswürdig ist, dass man ihm Glauben schenkt, und der Handlungsgewalt besitzt?«
    Als ich ihn in diesem Zustand sah, begriff

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