Der schwarze Schleier
ich, dass es mir nun um des armen Mannes und um der öffentlichen Sicherheitwillen oblag, seinen Geist zu beruhigen. Deswegen ließ ich alle Fragen nach Wirklichkeit und Schein zwischen uns außer Acht und sagte ihm, dass jemand, der seine Pflicht gründlich tat, gute Arbeit leistete, dass er sich zumindest damit trösten könne, dass er verstand, was seine Pflicht sei, wenn er auch diese verwirrenden Erscheinungen nicht verstand. Mit diesen Bemühungen hatte ich weit mehr Erfolg als mit meinem Versuch, ihm seine Überzeugung mit Vernunftgründen auszureden. Er beruhigte sich; die Tätigkeiten, die zu seinem Dienst gehörten, verlangten im Laufe der Nacht seine Aufmerksamkeit immer mehr, und ich verließ ihn gegen zwei Uhr morgens. Ich hatte ihm angeboten, die ganze Nacht über bei ihm zu bleiben, aber davon wollte er nichts wissen.
Dass ich mehr als einmal zu dem roten Licht zurückblickte, während ich den Pfad hinaufstieg, dass mir das rote Licht gar nicht gefiel und dass ich sehr schlecht geschlafen hätte, wenn mein Bett darunter gestanden hätte, will ich nicht verhehlen. Genauso wenig gefiel mir die Abfolge der Ereignisse bei dem Unfall und bei dem Tod des Mädchens. Auch das will ich nicht verhehlen.
Doch was meine Gedanken am meisten beschäftigte, war die Überlegung, wie ich mich verhalten sollte, nachdem ausgerechnet mir das alles enthüllt worden war. Ich hatte Beweise, dass der Mann intelligent, wachsam, gewissenhaft und genau war; aber wie lange würde er das bleiben in diesem Geisteszustand? Er war zwar in einer untergeordneten Position, hatte aber doch eine außerordentlich wichtige Vertrauensstellung inne, und würde ich (zum Beispiel) mein eigenes Leben davon abhängig machen, dass er seinen Pflichten weiterhin mit gewohnter Genauigkeit nachkam?
Da ich mich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass es so etwas wie Verrat wäre, wenn ich das, was er mir anvertrauthatte, seinen Vorgesetzten bei der Bahngesellschaft weiterleitete, ohne zuerst deutliche Worte mit ihm zu sprechen und ihm einen Mittelweg vorzuschlagen, beschloss ich schließlich, ihm meine Begleitung zum klügsten Arzt anzubieten, den wir in unserer Gegend hatten (und ansonsten sein Geheimnis im Augenblick zu wahren), um dessen Fachmeinung einzuholen. Er hatte mir mitgeteilt, dass sich am nächsten Abend seine Schichtzeiten ändern würden, dass er eine oder zwei Stunden nach Sonnenaufgang abgelöst würde und bald nach Sonnenuntergang wieder Dienst hatte. Ich hatte mich entsprechend zu meinem nächsten Besuch mit ihm verabredet.
Der nächste Abend war wunderbar, und ich machte mich früh auf den Weg, um ihn zu genießen. Die Sonne war noch nicht ganz untergangen, als ich den Feldweg in der Nähe des tiefen Einschnitts überquerte. Ich würde meinen Spaziergang noch um eine Stunde ausdehnen, sagte ich mir, eine halbe Stunde hin und eine halbe Stunde zurück, und dann wäre es Zeit, meinen Signalwärter in seiner Bude zu besuchen.
Ehe ich losschlenderte, trat ich zur Kante und schaute beinahe mechanisch hinunter von der Stelle, von wo aus ich ihn zum ersten Mal wahrgenommen hatte. Ich kann die Erregung nicht beschreiben, die mich erfasste, als ich nahe beim Eingang des Tunnels die Gestalt eines Mannes sah, der den linken Ärmel vor die Augen hielt und leidenschaftlich mit dem rechten Arm winkte.
Der namenlose Schrecken, der mich ergriffen hatte, verging bereits im nächsten Augenblick, denn schon sah ich, dass diese Erscheinung wirklich ein Mann war und dass ein wenig entfernt eine kleine Gruppe anderer Männer stand, an die er diese Geste zu richten schien. Das Notsignal war noch nicht angezündet. An seinem Fuß war aus einigenHolzstützen und Planen eine kleine niedrige Hütte errichtet, die mir völlig neu war. Sie sah kaum größer aus als ein Bett.
Mit dem unwiderstehlichen Gefühl, dass etwas nicht stimmte – und mit einer aufflackernden schuldbewussten Furcht, dass sich Unheilvolles ereignet hatte, weil ich den Mann dort allein gelassen hatte und niemanden zu ihm hatte schicken lassen, der ihn beaufsichtigen oder seine Fehler korrigieren würde –, stieg ich den Zickzackweg hinunter, so schnell ich nur konnte.
»Was ist los?«, fragte ich die Männer.
»Der Signalwärter ist heute Morgen umgekommen, Sir.«
»Nicht der Mann, der zu diesem Posten gehört?«
»Doch, Sir.«
»Nicht der Mann, den ich kenne?«
»Sie werden ihn erkennen, Sir, wenn Sie ihn kannten«, sagte der Mann, der für die anderen sprach, nahm
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