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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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feierlichzu ihm zu sagen: »Richard, ich werde niemals einen anderen Mann heiraten. Ich werde um deinetwillen ledig bleiben, aber Mary Marshalls Lippen« – sie hieß Mary Marshall – »werden auf Erden nie wieder ein Wort an dich richten. Und jetzt geh, Richard! Möge der Himmel dir verzeihen!« Das hat ihn vollends erledigt. Das hat ihn hierher nach Chatham gebracht. Das hat aus ihm den Gemeinen Richard Doubledick gemacht, der sich rasch erschießen lassen wollte.
    In den Kasernen von Chatham gab es im Jahre 1799 keinen liederlicheren und leichtsinnigeren Soldaten als den Gemeinen Richard Doubledick. Er trieb sich mit dem Abschaum jedes Regimentes herum, er war so selten nüchtern, wie es nur ging, und er wurde ständig wegen irgendetwas bestraft. Bald war der gesamten Kaserne klar, dass der Gemeine Richard Doubledick in naher Zukunft sicherlich auch ausgepeitscht werden würde.
    Nun war der Hauptmann von Richard Doubledicks Kompanie ein junger Herr, der kaum fünf Jahre älter war als er und dessen Augen einen Ausdruck hatten, der auf den Gemeinen Richard Doubledick eine bemerkenswerte Wirkung ausübte. Es waren strahlende, schöne, dunkle Augen – das, was man im Allgemeinen als lachende Augen bezeichnet, und selbst wenn sie ernst blickten, so waren sie eher ruhig als streng –, aber es waren die einzigen Augen in seiner eingeengten Welt, die der Gemeine Richard Doubledick überhaupt nicht ertragen konnte. Völlig unbeeindruckt von schlechten Berichten und Strafen, allem und jedem trotzig die Stirn bietend, musste er nur wissen, dass ihn diese Augen kurz anblickten, und schon schämte er sich. Er konnte Hauptmann Taunton nicht einmal auf der Straße grüßen wie jeden anderen Offizier. Die bloße Möglichkeit, dass der Hauptmann ihn ansehen könnte, war ihmein Vorwurf, verwirrte und bestürzte ihn . In seinen schlimmsten Zeiten wäre er lieber umgekehrt und hätte jeden Umweg auf sich genommen, als diesen beiden schönen, dunklen, strahlenden Augen zu begegnen.
    Eines Tages, als der Gemeine Richard Doubledick aus der Arrestzelle kam, in der er die letzten achtundvierzig Stunden gesessen hatte und in deren Abgeschiedenheit er einen guten Teil seiner Zeit verbrachte, wurde ihm befohlen, sich in Hauptmann Tauntons Quartier zu begeben. In dem matten und schmutzigen Zustand eines gerade aus dem Arrest entlassenen Mannes stand ihm der Sinn weniger denn je danach, vor dem Hauptmann zu erscheinen, aber er war noch nicht so verrückt, dass er Befehle verweigert hätte, und ging folglich zu der Häuserreihe hinauf, die oberhalb des Exerzierplatzes lag und wo die Offiziere untergebracht waren; während er dahin lief, drehte und wendete er in den Händen einen Strohhalm, der zum schmückenden Mobiliar der Arrestzelle gehört hatte.
    »Kommen Sie herein!«, rief der Hauptmann, nachdem Richard mit den Fingerknöcheln an die Tür geklopft hatte. Der Gemeine Richard Doubledick nahm die Mütze vom Kopf, tat einen Schritt vor und war sich sehr deutlich bewusst, dass er im Blickfeld der dunklen, strahlenden Augen stand.
    Eine stumme Pause folgte. Der Gemeine Richard Doubledick hatte den Strohhalm in den Mund gesteckt, wo er ihm, auf die Hälfte gefaltet, in die Luftröhre geriet und ihn beinahe erstickt hätte.
    »Doubledick«, sagte der Hauptmann, »wissen Sie, wo Sie hingehen?«
    »Zum Teufel, Sir?«, erwiderte Doubledick zögernd.
    »Ja«, antwortete der Hauptmann . »Und zwar sehr schnell.«
    Der Gemeine Richard Doubledick wendete den Strohhalm aus der Arrestzelle im Mund und brachte nur ein jammervolles zustimmendes Grunzen hervor.
    »Doubledick«, sagte der Hauptmann, »seit ich als Junge von siebzehn Jahren in den Dienst Seiner Majestät getreten bin, habe ich zu meinem Bedauern manch einen vielversprechenden Mann diesen Weg einschlagen sehen, aber nie hat es mir solche Schmerzen bereitet, jemanden diese schändliche Reise antreten zu sehen, wie bei Ihnen, seit Sie zum Regiment gestoßen sind.«
    Der Gemeine Richard Doubledick bemerkte, wie sich ein Schleier über den Boden breitete, auf den er schaute; er merkte auch, dass die Beine am Frühstückstisch des Hauptmanns krumm wurden, als sähe er sie durch Wasser.
    »Ich bin nur ein gemeiner Soldat, Sir«, meinte er. »Es ist nicht von Bedeutung, was aus so einem armen Hund wird.«
    »Sie sind ein Mann«, erwiderte der Hauptmann mit ernster Entrüstung, »von einiger Bildung und hervorragenden Eigenschaften; und wenn Sie das sagen und meinen, was Sie sagen, dann sind Sie

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