Der schwarze Thron - Reiter reiter3
verwandelt werden.
Sie senkte die Spitze ihrer Lanze auf das Siegel. Befehlende Worte strömten von ihren Lippen, Worte, die sie nicht kannte, Worte, die keiner sterblichen Sprache entstammten. Das Siegel wurde heller und heller, bis sie ihre Augen bedecken musste.
Dann verblasste es schlagartig zu einem silbrigen Glühen. Die Symbole waren wiederhergestellt, der Rost war verschwunden,
und die Dämonen auf der anderen Seite wurden wieder weit hinab in den Abgrund gestoßen, wo sie hingehörten. Nun erhob sich Salvistar erneut, er strebte nach oben und schlug in der Luft mit seinen großen Flügeln. Sie schossen höher und höher durch die Dunkelheit, bis sie in der Kammer der Hillander herauskamen. Die Gräber wurden nicht mehr erschüttert, obwohl viele uralte, dunkle Geister immer noch unten durch die Straßen der Toten huschten wie auch oben durch die Gänge der Burg.
»Kommt«, befahl Karigan-Westrion und deutete mit der Lanze auf den Spalt.
Die dunklen Geister sammelten sich in der Kammer wie eine große Wolke, die das Licht verdunkelte. Unfähig, Westrion zu widerstehen, kreisten sie zurück in den Abgrund, in das Reich unterhalb der Gräber. Nachdem der letzte Geist verschwunden war, zitterte und bebte der Boden, und der Spalt schloss sich.
Zu den Geistern und Leichen der Adligen sagte der Totengott: »Kehrt zu euren Katafalken zurück und schlaft.«
Die Toten zogen sich aus der Kammer zurück in die Ruinen der Korridore.
Der Staub, der in der Luft gehangen hatte, klärte sich, als sei er weggesaugt worden. Trümmer erhoben sich vom Boden und bewegten sich an ihren Platz zurück. Statuen und Rüstungen setzten sich wieder zusammen und richteten sich an ihren Plätzen auf. Spalten, Risse und abgebröckelte Stellen reparierten sich selbst, bis es keinerlei Anzeichen für irgendwelche Schäden mehr gab. Alle Bruchstücke von König Smidhes Statue flogen mit atemberaubender Geschwindigkeit zusammen, bis sie wieder makellos und komplett dastand: der stolze König auf seinem Pferd aus Marmor.
Karigan blinzelte und fand sich nicht mehr auf dem
Rücken des Hengstes, sondern hinter der Säule versteckt, das Buch in den Armen, genau da, wo sie anfangs gewesen war. Nirgendwo war eine Spur der Rüstung oder des Hengstes zu sehen, und sie fing an zu glauben, dass das alles nur Teil eines Traumes gewesen war. Genau wie vorhin sah sie den Mann, der sie verfolgt hatte, neben ihrer Blutspur knien.
»Nichts von alldem ist geschehen«, flüsterte sie und legte ihre Hand auf ihre fiebrige Schläfe.
»Es geschah doch«, sagte jemand neben ihr.
Sie wandte sich der Stimme zu und entdeckte einen Geist neben sich, der sie anblickte. Fast hätte sie aufgeschrien, aber er legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete ihr zu schweigen. Dieser Geist war der Reiter aus alter Zeit, der sie in ihrem Traum und in der weißen Welt besucht hatte. Die Brosche mit dem geflügelten Pferd schimmerte auf seiner Brust, und ihre eigene Brosche wurde wie zur Antwort fühlbar wärmer.
»O ja«, sagte er, »ich war der Dritte, der diese Brosche trug, dieselbe, die du jetzt hast.«
Karigan zitterte unter dem Gewicht der Worte, genau wie damals, als Lil Ambrioth ihr enthüllt hatte, dass sie die Erste gewesen sei, die die Brosche besessen hatte.
Der Reitergeist winkte sie tiefer in den Korridor hinein.
»Ich habe dich schon früher gesehen«, flüsterte sie.
»Ja«, bestätigte er. »Ich bin Siris Kiltyre, dritter Hauptmann der Grünen Reiter.«
Als sie den Korridor hinuntergingen, wobei der Geist einige Zentimeter über dem Boden dahinglitt, schien alles auf seinem richtigen Platz zu sein.
»Warum bist du hier?«, fragte sie.
»Erinnerst du dich an die Frage, die ich dir einmal stellte?«
Karigan war drauf und dran, verneinend den Kopf zu
schütteln, aber dann erinnerte sie sich doch. »Du hast mich gefragt, ob ich wüsste, wer – nein, was – ich bin.«
»Weißt du die Antwort?«
»Ich bin ein Grüner Reiter.«
»Das ist lediglich der Anfang«, gab er zurück. »Du bist ein Avatar.«
Karigan stolperte und blieb stehen. » Was? «
Siris Kiltyre bedeutete ihr mit einer Geste, weiterzugehen. »Ich ritt ebenfalls als Avatar für Westrion«, erklärte er. »Unsere Gabe ist es, den Tod zu berühren.«
»Nein! Meine Gabe ist es, zu verblassen, zu verschwinden.«
Der Geist Siris Kiltyres sah zu ihr zurück, seine Bewegungen gespenstisch verschwommen. Die Augen besaßen die Dichte der Mitternacht und der tiefen Brunnen der Ewigkeit.
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