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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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französischsprachigen Schweiz weigert sich auch in Genf praktisch jeder
Einwohner, Deutsch zu sprechen. Sicher, die Genfer lernen es in der Schule.
Aber wie das mit Schulwissen eben so ist: Kaum ist man draußen im richtigen
Leben, fällt einem keine einzige Vokabel mehr ein. Auf der Straße und in den
Geschäften hört man eher Englisch.
    Oder liegt es gar nicht am Zungenschlag, sondern
daran, dass hier alles so trist wirkt? Ist es hier sogar den Schweizern zu
ernst, fehlt ihnen , in welcher Sprache auch immer,
die joie de vivre ? Die protestantische Arbeitsmoral
scheint in die Gebäude eingesickert zu sein und hat auch bei den Menschen und
in den Straßen ihre Spuren hinterlassen. Klar, in den Geschäftsauslagen
glitzert eine Menge teurer Tand, aber die Augen der Menschen strahlen nicht.
Vielleicht sind ja alle damit beschäftigt zu überschlagen, wie lange sie
arbeiten müssen, um ihre Miete zu bezahlen – Genf hat die höchsten Mietpreise
der Schweiz. Das ist der Hauptgrund, warum die Stadt laut einer Erhebung von 2011
bei den Lebenshaltungskosten weltweit den fünften Platz belegt.
    Das Herz von Genf ist aber nicht die Uferpromenade,
auch nicht das Geschäftsviertel, sondern die hügelige Altstadt, die aussieht
wie eine Filmszenerie aus Die drei Musketiere , nur
ohne wehende Umhänge und breitkrempige Hüte. Fast wie in Zürich hat man den
Eindruck, hier sei die Zeit seit Jahrhunderten stehen geblieben, allerdings
vermisst man schmerzlich dessen Lebendigkeit. Selbst an einem sonnigen Werktag
liegen die engen, schattigen Gassen zwischen den hohen Steinhäusern fast
verlassen da, einschüchternd elegante Antiquitätenläden und geschlossene
Fensterläden sieht man weit häufiger als Cafés. Das ist eine Stadt, die selbst
nach Calvins Tod nicht gelernt hat, Spaß zu haben. Ein Blick auf seinen harten
Holzstuhl in der kahlen Kathedrale reicht, und man weiß, was er von
Bequemlichkeit und Schönheit gehalten hat. Da tut einem allein vom Anschauen
der Hintern weh.
    Den großen Mann selbst findet man im Parc des
Bastions. Im Nordosten der hübschen Grünfläche, wo einst die Stadtbefestigung
war, erhebt sich das weltweit eindrucksvollste Monument der Reformation. Vier
gigantische gemeißelte Statuen, alle mit sehr ernster und strenger Miene, sind
Teil einer hundert Meter langen Sandsteinmauer. In ihren langen Roben und mit
den grimmig wirkenden Bärten sehen sie aus wie ein vierfacher Dumbledore,
allerdings an einem seiner schlechten Tage. Natürlich ist einer von ihnen
Calvin, ein anderer ist John Knox, der Begründer des schottischen
Presbyterianismus, der einst in Genf Zuflucht gesucht hatte. Außerdem ist das
Vaterunser in englischer Sprache in die Wand gemeißelt, und auch die
Pilgerväter sind dort verewigt, ebenso wie die englische Bill of Rights (die
Katholiken von der Thronfolge ausschloss). Ein weltumspannender Blick auf die
protestantische Geschichte, nur dass Zwingli fehlt, der sich mit einer bloßen
Namensnennung auf einem nahen Sockel ohne Statue begnügen muss. Dass er
Schweizer war, ist unverkennbar weniger wichtig als die Tatsache, dass er nicht
Französisch sprach. Obwohl Protestant, war er den braven Bürgern von Genf zu
deutsch.
    Heute ist die Stadt nicht mehr die protestantische
Hochburg von einst. Die Volkszählung von 2000 ergab, dass nur 14
Prozent der Bevölkerung protestantisch sind, in etwa so viele wie im ganzen
Kanton Genf. Zwar gibt es hier keine katholischen Feiertage, doch
protestantisch ist Genf nur noch nominell. Calvin dreht sich bestimmt im Grabe
um – falls es nicht recycelt wurde.

Von Minaretten und Minderheiten
    Die Tatsache, dass nur noch ein Sechstel der Genfer
Bevölkerung Calvins Glauben teilt, zeigt, wie empfindlich sich das
Gleichgewicht zwischen Katholiken und Protestanten verschoben hat. Bis Mitte
des 20.
Jahrhunderts stellten Protestanten landesweit die Mehrheit. Dann kamen die 60er-Jahre,
das Immigrationsjahrzehnt, als Italiener und Portugiesen zu Tausenden in die
Schweiz strömten, um dort zu arbeiten. Sie waren katholisch – und sie blieben.
Heute gibt es hier weit mehr Katholiken als Protestanten, aber nur, weil ein
Fünftel von ihnen Ausländer sind. Allein auf die Schweizer Bevölkerung bezogen
– also abzüglich sämtlicher Immigranten – sind die Zahlen ungefähr gleich
geblieben (etwa 41
Prozent). Wobei der Riss zwischen Katholiken und

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