Der Schweizversteher
Protestanten praktisch keine
Rolle mehr spielt. Er spaltet die Schweizer nicht mehr wie ehedem. Stattdessen
hat sich eine neue Religion ausgebreitet.
Vor vierzig Jahren waren über 98 Prozent der Schweizer
christlichen Glaubens, heute sind es gerade noch 75 Prozent. Wobei diese
nationalen Durchschnittszahlen die Ausschläge nach oben und unten verschleiern:
So sind etwa im Kanton Uri beinahe 93 Prozent katholisch, in der Stadt Basel
bilden Protestanten und Katholiken zusammen nicht einmal mehr die Mehrheit. Zum
Teil hängt das mit der gestiegenen Zahl der Muslime zusammen, die vor allem aus
Exjugoslawien und der Türkei stammen und 2005 einen Anteil von 5,7
Prozent der Bevölkerung ausmachten. Das ist unglaublicherweise ein höherer
Prozentsatz als in Deutschland (5,0 Prozent) oder GroÃbritannien (4,6
Prozent). Für ein Land, in dem einmal fast jeder christlichen Glaubens war, ist
das ein riesiger Umbruch, der mit schmerzhaften Umstellungsschwierigkeiten
einhergeht.
Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ist die
Schweizer Politik in Fragen der Immigration und Integration zu einem
Schlachtfeld geworden, wobei die Religion eine groÃe Rolle spielt. Zwar sind in
der Schweiz inzwischen viele Religionen vertreten, doch die Bevölkerung hat
sich daran noch nicht gewöhnt, und nicht jeder ist damit einverstanden, wie die
Abstimmung über die Minarette 2009 belegt. Wandel in der Schweiz geht nie
schnell vonstatten.
Aber vielleicht noch bezeichnender ist die
astronomische Zunahme von Nichtgläubigen. Ãber elf Prozent der Bevölkerung
kreuzen jetzt »ohne Religion« an, eine Verzehnfachung innerhalb von vierzig
Jahren. Diese Entwicklung ist in groÃen Städten wie in Basel weit ausgeprägter
als in den standhaften katholischen Gebieten der Zentralschweiz und
höchstwahrscheinlich einem Vertrauensverlust in die Kirche oder einem Rückgang
der Protestanten geschuldet. Es könnte aber auch nur ein Steuertrick sein. Denn
in den meisten Kantonen zahlt man noch immer seinen Zehnten, also
Kirchensteuer, und dessen Höhe hängt vom Einkommen ab, vom Wohnort und davon,
welcher Kirche man angehört.
Man kennt Ãhnliches aus Deutschland, doch in
britischen Ohren klingt das mittelalterlich, vor allem weil man diese Steuer
auch zahlen muss, wenn man gar kein aktiver Kirchgänger ist. Der sauberste Weg,
diese Steuerzahlung zu vermeiden, ist ein offizieller Kirchenaustritt. Eine
prima Lösung, wenn man eine Person ist, schwieriger schon für ein Unternehmen â
in drei Viertel aller Kantone müssen auch sie Kirchensteuer zahlen, was sich im
Kanton Zürich jährlich zu etwa 80 Millionen Franken summiert. Und wenn man im
Kanton Bern erfolgreich Lotterie gespielt hat, gehen acht Prozent des Gewinns
an die Kirche. Autsch!
Von allen historischen Verwerfungslinien in der
Schweizer Gesellschaft ist die religiöse heutzutage die am wenigsten
offensichtliche, vor allem weil sie so unscharf verläuft. Es gibt
französischsprachige Reformierte und deutschsprachige Katholiken ebenso wie
umgekehrt. Auch sind die Kantone nicht sauber in zwei Lager geteilt, und es
gibt auch keine Ost-West- oder Nord-Süd-Trennung.
Die kreuz und quer verlaufende Glaubensspaltung
zwischen Katholiken und Reformierten ist in der heutigen Schweiz relativ
bedeutungslos. Viel wichtiger ist den meisten Schweizern, wo man wohnt, für
welche Partei man stimmt und was man sagt. Während das Christentum half, die
Schweiz von heute zu schaffen, hat es sich vom Konflikt zum Konsens hinbewegt.
Einst wäre es undenkbar gewesen, dass eine katholische Nonne durch Bern geht,
während die Glocken der protestantischen Kathedrale läuten; heute ist das
zumindest für die Einheimischen normal. Ich hingegen bin immer noch jedes Mal
hingerissen. Was nicht an den wundervollen Glockenklängen liegt, denn die sind
in regelmäÃigen Abständen tagtäglich zu hören. Auch nicht daran, dass ich in
England nur ein einziges Mal Nonnen gesehen habe, und zwar in The Sound of Music ( Meine Lieder â meine
Träume ). Vielmehr zeigt es, was eine Gesellschaft erreichen kann, wenn
sie sich wirklich bemüht. Wie traurig, dass diese in der Vergangenheit
schmerzlich errungene Erfahrung heute von jenen ignoriert wird, die den Islam
unbedingt zum Streitthema machen wollen. Wieder einmal könnte die
Religionsfrage die Schweiz spalten, sodass die Zukunft weit weniger sicher
scheint als die
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