Der Schweizversteher
SchlieÃlich ist die Schweiz klein und will kein kostbares Land für Tote
vergeuden.
Einen Ort gibt es allerdings, wo den Toten eine Menge
Platz eingeräumt wird, und zwar in den Zeitungen. Die Todesanzeigen hier sind
eindeutig keine verschämten Dreizeiler â friedlich dahingegangen, schmerzlich
vermisst, bitte keine Kränze und Blumen, so was in dieser Art.
In der Schweiz wird für die Anzeige eine Viertelseite
schwarz gerändert, sie enthält ein passendes Zitat, die Adresse des
Dahingeschiedenen, Details zur Beerdigung und die Namen sämtlicher trauernder
Anverwandten. Das Sterben ist in der Schweiz eine wichtige Sache, nicht zuletzt
für die groÃformatigen Zeitungen, die den Toten, egal ob Protestanten oder
Katholiken, ganze Seiten widmen. Im Tod wie im Leben ruht der Schweizer
Religionszwist in Frieden.
Das protestantische Rom
Zwar begann die Schweizer Reformation in Zürich, ihre
Blüte aber erlebte sie in Genf. Beim Klang dieses Namens denkt man heute zuerst
an Friedensgespräche, internationale Konferenzen, Privatbanken oder den See.
Vor vier Jahrhunderten hingegen kamen einem dabei ganz andere Dinge in den Sinn
â bis auf den See, der war auch damals schon da. In jenen Tagen war Genf für
einen Protestanten das gelobte Land, vor allem wenn er gerade vor der
spanischen Inquisition oder einem anderen katholischen Rollkommando geflohen
war. Genf war damals eine Stadtrepublik, zwar mit der Schweiz verbündet, aber
kein Teil von ihr, und das protestantische Gegenstück zu Rom. Was es
gröÃtenteils dem Franzosen Jean Calvin verdankte. Er machte im August 1536
dort halt, um zu übernachten, und danach war die Stadt nicht mehr dieselbe.
Unter seiner Herrschaft wurde Genf zum Iran der damaligen Zeit: eine
Theokratie, in der die Gotteskrieger alles fest in der Hand hatten.
Von den Genfer Bürgern wurde erwartet, dass sie von
der Wiege bis zur Bahre arbeiteten und dabei jeglichem Vergnügen entsagten.
Alles, was auch nur ansatzweise Spaà machte, war verboten: Tanzen, Glücksspiel,
Lärmen, Theater, Trinken, luxuriöse Kleidung. Gott hielt über alles Wacht, und
zwar ein puritanischer Gott. Seinem Willen wurde mit Dekreten, Ausgangssperren,
Gefängnis und öffentlichen Hinrichtungen Geltung verschafft. Allerdings war
nicht alles verboten. Harte Arbeit ging in Ordnung, dasselbe galt für Gebete
und, man höre und staune, für Zinsen auf Darlehen. Kaum war das uralte
religiöse Wucherverbot passé, war hoppla-di-hopp! das Schweizer Bankwesen
geboren. Aus diesem Grund sehen viele im Calvinismus den Ursprung des modernen
Kapitalismus, aber auch all die viele harte Arbeit hat wohl ihr Scherflein dazu
beigetragen.
Wenn man mit dem Zug in Genf eintrifft, bekommt man
nicht den allerbesten Eindruck von der zweitgröÃten Stadt der Schweiz. Fast überall
auf der Welt ist die Bahnhofsgegend das am wenigsten attraktive Stadtviertel,
und Genf macht da keine Ausnahme. Zugegeben, es ist nicht so schlimm wie um
Kingâs Cross in London oder das Frankfurter Bahnhofsviertel, aber für Schweizer
Verhältnisse ist es definitiv heruntergekommen, die Fassaden bröckeln wie
morgens das Make-up der gewerblichen Schönen der Nacht. Wobei sich deren Tun
nicht auf die Zeit der Dunkelheit beschränkt, denn Prostitution zählt in der
Schweiz zu den wenigen rund um die Uhr erhältlichen Dienstleistungen. Und in
einer Stadt wie Genf mit so vielen Diplomaten und Konferenzen gibt es fraglos
groÃen Bedarf sowie die Kapazitäten, ihn zu decken.
Von den anrüchigen Bars ist es aber nur ein kurzer
Spaziergang den Hügel hinunter zur Postkartenansicht von Genf: ein Seeufer,
gesäumt von Palasthotels, modernen Banken und Leuchtreklamen. Vor dem
Hintergrund der französischen Alpen ziehen Segelboote auf dem Wasser ihre Bahn,
und das Wahrzeichen der Stadt schieÃt 140 Meter in die Höhe. Der
Jet dâEau ist einer der gröÃten Brunnen der Welt, doch abgesehen davon, dass er
ganz nett aussieht, vor allem wenn er nachts angestrahlt wird, erfüllt er
keinen Zweck. Aber wenigstens liefert er den Touristen ein Fotomotiv.
Für viele Deutschschweizer ist Genf die Stadt, die sie
am wenigsten mögen. Das liegt nicht daran, dass sie so untypisch für eine
Schweizer Stadt (fast rumdum von Frankreich umzingelt) oder ähnlich
selbstgefällig wie Zürich ist, sondern an der Sprache. Wie beinahe überall in
der
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