Der Schweizversteher
ordentlich, sauber,
straff organisiert und dennoch irgendwie wunderschön. Es ist, als hätte sich
die Landschaft in vollkommener Harmonie entwickelt, wobei Mensch und Natur zum
Nutzen beider zusammenarbeiten.
Eines aber ist trotz Reben und Rebensaft ähnlich wie
auf anderen Zugfahrten in der Schweiz. Nicht nur, dass es mehrsprachige Ansagen
gibt oder die Schaffnerin tüchtig und freundlich ist, sondern dass Sie den
Waggon vermutlich mit einer Gruppe Soldaten teilen. Für Urlaubsgäste kann es
etwas verstörend wirken, in öffentlichen Verkehrsmitteln eine Schar
Uniformierter mit Bierflasche und Sturmgewehr anzutreffen. Das ist oft die
gröÃte Ãberraschung bei einer Reise durch das friedlichste Land der Welt.
Neutral mag die Schweiz sein, aber pazifistisch ist sie nicht. Ganz und gar
nicht. Sie ist ein hoch militarisiertes Land, und Uniformierte fallen in Zügen
und Städten nicht weiter auf: An manchen Wochenenden hat man das Gefühl, das
ganze Land mache für den Ersten Weltkrieg mobil. Aber die Schweizer denken sich
nichts dabei. Für sie ist es einfach eine Tatsache im Leben eines jeden Mannes.
Nach Erreichen des zwanzigsten Lebensjahrs muss jeder
Schweizer einen 260-tägigen
Wehrdienst ableisten, entweder am Stück oder in Jahresraten, bevor er 34
Jahre alt wird. Nach dem Ende seiner aktiven Dienstzeit ist er dann noch zehn
Jahre lang Reservist und muss regelmäÃig an SchieÃübungen teilnehmen.
Verweigerer wurden früher zu Haftstrafen verurteilt, seit den 1990er-Jahren
darf jedoch auch ein Ersatzdienst abgeleistet werden, der allerdings 390
Tage dauert. Frauen sind als Freiwillige zugelassen, aber die wenigstens
entscheiden sich dafür: Im Jahr 2010 meldeten sich nur 141 zur Musterung.
Insgesamt steht eine Armee von über 200 000 Mann abrufbereit, um
das Land zu verteidigen. Fragt sich nur, gegen wen?
Ein stehendes Heer zu unterhalten ist nicht billig.
Der Verteidigungshaushalt verschlingt jedes Jahr über vier Milliarden Franken,
mit 7,6
Prozent der Bundesausgaben wird hierfür mehr aufgewendet als für die
Landwirtschaft. Das ist ein stattlicher Betrag für ein neutrales Land, das seit
über 200
Jahren nicht mehr angegriffen wurde. Wenn ein Schweizer seinen Militärdienst
leistet, zahlt ihm der Staat 80
Prozent seines Gehalts. Bedenkt man, dass alljährlich 6,5 Millionen Tage
abgeleistet werden, kommt das den Steuerzahler teuer zu stehen. Und nicht nur
das: Jeder Soldat erhält ein eigenes Gewehr, das obligatorische Armeemesser
ohne Korkenzieher und zwei Uniformen, die er zu Hause aufbewahren muss, damit
er kurzfristig einsatzbereit ist und korrekt gekleidet den Feind erschieÃen
kann. Das Gewehr muss unauffällig weggeschlossen werden, was aber nicht
verhindert, dass alljährlich bei 300 Todesfällen Armeewaffen im Spiel sind. In
Schweizer Privathaushalten gibt es 2,4 Millionen Schusswaffen; 75 Prozent davon stammen
aus Armeebeständen. Da erstaunt es kaum, dass die Schweiz europaweit bei
Männern unter 24
die höchste Selbstmordrate mit Schusswaffengebrauch aufweist.
Als würde es nicht reichen, bis an die Zähne bewaffnet
zu sein, ist die Schweiz auch noch für alles andere gerüstet, was man ihr
zufügen könnte. Jeder hat Zugang zu einem Atomschutzbunker, weil man ja nie
weiÃ, wann die Bombe fallen wird. Meiner ist in der Grundschule die StraÃe runter,
aber die meisten suchen in ihrem Keller Zuflucht. Dort befinden sich in der
Regel auch Gemeinschaftswaschmaschinen für alle Wohnungen im Haus, denn die
meisten Schweizer verzichten auf eine eigene Maschine. Manche Waschküchen
funktionieren fast ohne Regeln, andere stellen einen turnusmäÃigen Plan auf,
sodass jeder einmal an der Reihe ist, seine schmutzige Wäsche in aller
Ãffentlichkeit zu waschen. Man stelle sich vor: nur zwei Tage im Monat (nie
sonntags, da ist es verboten), an denen man waschen kann. Wie unzivilisiert!
Aber wenigstens überlebt man den Atomschlag, wenn er an einem Waschtag erfolgt.
Dann sind da die Sirenen. Niemand warnt einen im
Voraus, und wenn man sie zum ersten Mal hört, fragt man sich wirklich, ob ein
Krieg ausgebrochen ist. Während man erwägt, den Atomschutzbunker aufzusuchen,
zeigt ein Blick auf die StraÃe, dass alle anderen unbekümmert scheinen.
Entweder bleiben die Schweizer in Krisen erschreckend ruhig, oder sie wissen
etwas, was ich nicht wei� Genau. Nämlich, dass jeden ersten
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