Der Schweizversteher
Doch ein Blick über den menschenleeren Platz offenbart die Einförmigkeit
der Architektur. Alle anderen Häuser sehen wie Zwillinge des Rathauses aus;
offenbar wurden sie ungefähr um dieselbe Zeit errichtet, im selben Stil und in
einer ähnlichen Farbe, also Schattierungen von GrauweiÃ. Fast sieht es so aus,
als wäre hier eine Stadt aus dem Boden gestampft worden. Eine Infotafel verrät
den Grund: 1838
wurde Heiden durch eine föhngestützte Feuersbrunst vernichtet, um dann in
klassizistisch-biedermeierlichem Stil wiederaufgebaut zu werden.
Heiden liegt am Rand des hügeligen Schweizer
Mittellands 400
Meter über dem Bodensee, einem der gröÃten Seen Europas. Auch an Sonnentagen
kann der Horizont in blauen Nebel gehüllt sein, sodass Wasser und Himmel zu
verschmelzen scheinen und man sich fühlt wie am Ende der Welt. Tatsächlich aber
liegt Heiden nur am Ende der Schweiz, die sich den Bodensee mit Deutschland und
Ãsterreich teilen muss, wobei die Grenzen irgendwo im Wasser verlaufen. Diesen
friedlichen Anblick muss Dunant bei seinen regelmäÃigen
Gesundheitsspaziergängen genossen haben. An einer Stelle mit dem schönsten
Seeblick gibt es sogar einen kleinen, nach ihm benannten Park mit einem groÃen
Denkmal, wenngleich das kantige Machwerk aus den 1950er-Jahren weder so
recht zu ihm noch zu dem Ort passt. Aber um die ganze Geschichte des
bedeutendsten Einwohners von Heiden zu erfahren, müssen wir das Spital
aufsuchen, mit seiner grauen Farbe und seiner GröÃe eine imposantere Version
der Gebäude auf dem Marktplatz. Heute ist es kein Krankenhaus mehr, sondern
beherbergt das Henri-Dunant-Museum, denn hier hat Dunant von 1887
bis zu seinem Tod am 30.
Oktober 1910
ein Zimmer bewohnt.
Ein Mann und sein Museum
Es ist Sonntag, aber selbst für Schweizer Verhältnisse
ist in Heiden nicht viel los. Vielleicht lag das Erfolgsgeheimnis des Kurorts
darin, dass man hier wirklich nichts anderes als Ruhe und Erholung findet. Bei
einem Spaziergang durch stille StraÃen und über verlassene Plätze gewinne ich
den Eindruck, durch eine Geisterstadt zu wandern, bis ich am Museum einem
Menschen aus Fleisch und Blut begegne. Zum Glück ist die Dame sehr freundlich
(vielleicht freut sie sich auch, mal jemanden zu sehen) und bietet an, exklusiv
für mich den kurzen Einführungsfilm auf Englisch zu zeigen. Während wir durch
den Korridor zum Fernsehzimmer gehen, fällt mir auf, dass sie rote Schuhe
trägt. Damit ist mein Tag gerettet. In ganz Heiden treffe ich nur eine
Menschenseele, aber sie ist eine echte Schweizerin.
Das kleine Museum, in seiner Art wohl kaum zu
übertreffen, liefert einen umfassenden, aber leicht verdaulichen Ãberblick vom
Leben dieses Mannes. In vier Räumen gelingt es, den Menschen und seine Arbeit
so gut zu erklären, dass ein recht klares Bild Dunants entsteht. Leider zeugt
es nicht von Lebensglück. Ungeachtet seiner guten Werke und seiner übergroÃen
Humanität war er, tieftraurig, verbittert, krank und einsam, als alter Mann
zuletzt weitgehend vergessen. Ein tiefer Abstieg für einen, der von
Blaublütigen bewirtet und als Verfasser eines der einflussreichsten Werke des 19.
Jahrhunderts gefeiert wurde.
Henri Dunant wurde am 8. Mai 1828 als ältestes von fünf
Kindern frommer Calvinisten geboren. Als junger Mann gründete er eine Genfer
Gruppe des Christlichen Vereins Junger Männer und trieb energisch dessen
Umwandlung in eine weltumspannende Organisation voran. Ohne ihn wäre der CVJM (alias YMCA ) vielleicht
eine provinzielle englische Wohltätigkeitsorganisation geblieben.
Aber der Höhepunkt in Dunants Leben war das Rote
Kreuz. Indem seine Idee Wirklichkeit wurde, entstanden internationales Recht
und die Grundlagen für eine weltweite Zusammenarbeit. Wie traurig, dass sein
restliches Leben so katastrophal verlief. 1867 ging er bankrott, und
mit ihm die Bank, die er leitete. Für die Genfer Gesellschaft gab (und gibt) es
vermutlich kaum schlimmere Verbrechen, als in den Zusammenbruch einer Bank
verwickelt zu sein. Dunant sah sich gezwungen, aus dem Rotkreuzkomitee
zurückzutreten, er wurde aus dem CVJM ausgeschlossen und musste ins Pariser Exil gehen. Seine Heimatstadt sah er nie
wieder. Nicht selten obdachlos und hungrig, irrte er durch Europa, ehe er, ein
kranker Eremit mit weiÃem Bart und langem Mantel, in Heiden strandete.
Unter allen Ausstellungsstücken nimmt ein
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