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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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Gelände ist, wie bei einer
Botschaft, nicht länger eidgenössisches Hoheitsgebiet, sondern internationales
Territorium. Und anders als die Schweiz, die durch Druck von außen gezwungen
wurde, sich ihrer Kriegsgeschichte zu stellen, ja, vielleicht gerade deswegen,
gab das Rote Kreuz seine Fehler im Umgang mit dem Genozid von sich aus zu: »Das ICRC bedauert heute seine früheren Fehler und
Unterlassungen. Dieses Versagen bleibt unauslöschlich im Gedächtnis der
Organisation eingegraben.« Gut gesagt.
    Heute ist das Rote Kreuz in aller Welt aktiv, doch
seinem Gründer blieb der Erfolg versagt. Auf den kometenhaften Aufstieg des
Henri Dunant folgte ein tiefer Sturz, und zwar so schnell und so endgültig,
dass in seiner Heimat heute kaum noch jemand über ihn Bescheid weiß. Die
Schweizer neigen insgesamt eher zur Bescheidenheit; Egoismus missfällt ihnen,
und Eigenwerbung ermutigen sie erst gar nicht. Aber selbst nach ihren Maßstäben
hätte Dunant sehr viel mehr Anerkennung verdient. Was wurde also aus ihm,
nachdem die gute Tat vollbracht war?

Bitteres Ende
    Henri Dunants Leben begann am Ufer des Genfer Sees und
endete oberhalb eines Sees am anderen Ende der Schweiz. Die beiden Seen
begrenzen wie gigantische Bücherstützen das Land von beiden Seiten und haben
einiges gemeinsam. Beide sind im Grunde riesige Ausbeulungen eines großen
Flusses – der Genfer See ist eine Ausbuchtung der Rhône, der Bodensee eine des
Rheins. Und keiner von beiden gehört ganz der Schweiz. Die Namen stiften wieder
einmal Verwirrung. Dass der Genfer See auf Französisch Lac
Léman heißt, leitet sich augenscheinlich vom lateinischen Lac Lemannus her, hat aber vermutlich mehr damit zu tun,
dass die Franzosen ihren größten See nicht nach einer Schweizer Stadt benennen
wollten. Der englische Name Lake Constance benennt
den Bodensee sinnvollerweise nach seinem Hauptort, dem deutschen Konstanz, das
im 16.
Jahrhundert vergeblich den Beitritt zur Schweizer Konföderation anstrebte. In
Deutschland heißt der See Bodensee, ein Name, der bei einem Blick auf die
Landkarte einleuchtet: Der See liegt eindeutig am unteren Ende von Deutschland.
Macht nichts, dass er für die Schweizer und die Österreicher, die den Namen
ebenfalls benutzen, vollkommen unsinnig ist (siehe Karte der Ostschweiz).
    Im Unterschied zu den Briten machen die Deutschen sehr
gern Urlaub am Bodensee mit seinen historischen Städten und großartigen Burgen,
und auch in der Hochsaison hat es seinen ganz eigenen Zauber, an der
Uferpromenade zu sitzen und Eis zu essen. Man fühlt sich gar nicht wie in
Deutschland. Im Gegensatz dazu ist das Schweizer Ufer unsagbar langweilig, die
Orte wirken deprimierend, und den Besuchern wird nichts geboten. Statt das Ufer
mit schönen Städten zu säumen, hat die Schweiz sie im Inland versteckt, als
wolle sie ihre Schätze verheimlichen. Das hat nicht funktioniert. Schmuckstücke
wie die prachtvolle Barockkirche von St. Gallen oder das unglaublich urige Dorf
Appenzell kann man nicht bauen und dann erwarten, dass sie unentdeckt bleiben.
    In seinen letzten 23 Lebensjahren wohnte
Dunant ganz in der Nähe, in der Gemeinde Heiden im Halbkanton Appenzell
Ausserrhoden, also im protestantischen Teil, der nur wenig größer ist als sein
katholischer Zwilling Innerrhoden. Damals war Heiden dank seiner sauberen Luft
und der Eisenbahn ein angesagter Kurort. Erholungsuchende aus deutschen
Großstädten konnten ohne Umsteigen anreisen. Die Linie vom See hinauf nach
Heiden ist eine von nur zwei Zahnradbahnen der Schweiz mit normaler Spurweite,
die andere ist die Rigibahn. Wenn Ihnen das so wenig sagt wie früher mir,
lautet die einfache Erklärung, dass Bergbahnen in der Regel eng
beieinanderliegende Schienen brauchen (Schmalspurbahn), um mit der Steigung
zurechtzukommen, während die Schienen der Normalspurbahn einen größeren Abstand
haben. Vielleicht genügt es zu wissen, dass die Eröffnung dieser Linie im Jahr 1875
für Heiden der Beginn eines Booms war, der bis zum Ersten Weltkrieg anhielt.
Und während dieser Zeit lebte und starb Dunant dort.
    Heute ist Heiden nur noch ein Schatten seiner selbst,
aber rund um den Marktplatz kann seine frühere Pracht besichtigt werden. Eines
der Glanzlichter ist das Rathaus, ein helles zweistöckiges Gebäude, das mit
seiner schlichten symmetrischen Eleganz in meinen englischen Augen georgianisch
wirkt.

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