Der Schwimmer: Roman (German Edition)
Österreich. Schon am nächsten Abend würde er wiederkommen, erklärte er, mindestens hundert Menschen hätte er schon über diesen Weg geführt, und er war sicher, es würden noch einmal hundert werden, mindestens. Zurückgehen müsse er jetzt, allein, sprach er weiter, wie um etwas einzuleiten, und dann fragte er, ob sie nicht glaubten, daß ihm noch ein Opfer, ein kleines Opfer zustehe, weil sie doch alle heil angekommen seien, dort, wo sie hatten ankommen wollen. Im Vorbeigehen gab Vali ihm ihre Armbanduhr, das Mädchen nahm seinen Ohrschmuck ab und legte ihn in seine Hände. Meine Mutter sagte, sie besitze nicht mehr als diesen Mantel und diese zerrissenen Strümpfe, und als sie ein Bein vorstreckte und auf das bißchen Stoff darüber zeigte, fragte der Bauer, was ist mit diesem Ring?
Meine Mutter hob ihre rechte Hand, schaute auf ihre Finger, auf ihren Ring, und fragte: mit diesem? Der Bauer nickte, und meine Mutter zog den Ring langsam ab. Er glitt leicht von ihrem Finger, der in der Kälte schmaler geworden war. Der Bauer drehte den Ring zwischen seinen Fingern, und das wenige Licht reichte aus, um die Gravur zu lesen, sechs Buchstaben, die ein Goldschmied in Pápa in die Innenseite des Rings geritzt hatte, unter einer kleinen Lampe, zu einer Zeit, die zu weit zurücklag, um sich daran zu erinnern. Kálmán also, sagte der Bauer, steckte den Ring ein, und meine Mutter war wirklich ohne Ring über die Grenze gegangen.
Der Bauer hatte ihnen gezeigt, in welche Richtung sie weitergehen mußten, und war schnell hinter einer Reihe von Bäumen verschwunden. Dann liefen sie los, meine Mutter und Vali, so schnell sie konnten, ein bißchen aus Angst, ein bißchen aus Freude, und meine Mutter drehte sich noch einmal um, weil sie nicht glauben konnte, daß sie jemand hierhergeführt hatte, jemand, der nicht mehr war als ein Fremder und jetzt ihren Ring bei sich trug.
Hinter der Grenze, in einem neuen Land, verteilte man in einem Zelt Decken, auch an meine Mutter und Vali. Jemand sagte in unserer Sprache, bitte, nehmen Sie nur, und schenkte dabei Tee aus einer Kanne in Gläser. Meine Mutter trat mit einer Decke um ihren Schultern vor das Zelt, schaute erst auf ihre schmutzigen Schuhe, dann hoch zum Himmel, der jetzt klein und flach und nah aussah, nicht mehr endlos.
Jemand sprach Deutsch, er hatte sich meiner Mutter als Máté Pál vorgestellt, es war niemand da, der ihn hätte vorstellen können, und er bot meiner Mutter an, für sie zu übersetzen. In welches Land sie wolle?, fragte er. Meiner Mutter war es gleich, England vielleicht, oder Amerika, erwiderte sie, zuckte mit den Achseln und schaute Vali an. Vali schlug vor: Deutschland. Deutschland sei eine gute Wahl, sagte Máté Pál, auch er wolle nach Deutschland. Hier, in diese Reihe solle sich meine Mutter stellen, in diese Liste eintragen, mit Namen und Geburtsdatum, und meine Mutter und Vali stellten sich in die Reihe und schrieben ihre Namen mit einem Stift auf, den Pál für sie aus seiner Jacke geholt hatte. Er blieb neben meiner Mutter stehen, schaute auf die Buchstaben, die sie nacheinander auf die Liste setzte, und erlaubte sich, meine Mutter mit ihrem Vornamen anzusprechen. Katalin sagte er zu ihr, einfach Katalin.
Auch am nächsten Tag, als er mit meiner Mutter und Vali in einem Bus saß, der sie weiter in Richtung Nordwesten bringen sollte, vorbei an Bergen, die weder meine Mutter noch Vali je gesehen hatten, zuerst durch den fallenden Schnee, und später, hinter der nächsten Grenze, durch den fallenden Regen, der den Schmutz langsam von den Scheiben wusch. Meine Mutter wischte mit ihrer Hand über das beschlagene Fenster, versuchte, etwas zu sehen, etwas zu finden, hinter dem Glas, dort draußen: ein Licht, ein Haus, einen Zaun, irgend etwas, aber außer dem Regen, den der Wind auf den Fenstern zu halten schien, konnte sie nichts erkennen. Mit einem Finger malte sie einen Pfeil auf das Fensterglas, einen Pfeil, der in Fahrtrichtung zeigte, und Vali legte ihre Stirn auf diesen Pfeil und sagte meiner Mutter, sie würde sie fortan Kata Ringlos nennen, und nur noch so. Wenig später schlief sie mit dem Kopf am Fenster ein, und meine Mutter sah dabei zu, wie Vali beim Ausatmen jedesmal einen kleinen Kreis auf das Glas hauchte.
Meine Mutter schlief nicht, während der ganzen Fahrt nicht. Sie hörte auf den Motor, die Bremsen, die Scheibenwischer, auf Geräusche, die sie ein wenig beruhigten, und rieb ihre Füße aneinander, um den Dreck von
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