Der Schwimmer: Roman (German Edition)
Nachrichten zu erzählen. Anna sagte: dieses Leben, wenn sie etwas einleitete, wenn sie etwas abschloß, und immer sprach sie diese beiden Worte wie eine Drohung aus, als sei das Leben genau das: eine Drohung.
Wenn es das gab, wenn es das geben konnte, dann hatten wir, unser Vater, Isti und ich, für dieses Leben, das auf irgendeine Weise doch uns gehörte, etwas wie eine stille Abmachung getroffen, die uns verband. Unser Vater nahm uns mit, er suchte Häuser für uns, in denen sich irgendwer um uns kümmerte, und Isti und ich, wir fragten dafür nicht länger, wann unsere Mutter zurückkommen würde oder wann wir zu ihr fahren würden, auch wenn wir hätten fragen wollen, ich bestimmt mehr als Isti. Wer uns verlassen hat, dem fahren wir nicht nach, sagten Isti und ich, und wir sagten es wie etwas, an das wir nicht glaubten, aber von dem wir uns überzeugen wollten, und je öfter wir es sagten, desto eher konnten wir es für wahr halten. Was uns gehörte und was wir zu kennen glaubten, war wenig, und es aufzugeben, war unmöglich. Unser Leben, so wenig es seit langem auch war, war doch unser Leben, und wir weigerten uns, dieses Etwas in Gefahr zu bringen. Wir hatten Angst, selbst das könnte uns verlorengehen, wenn wir es für einen Moment verließen.
Ich gab nur vor, nicht mehr an meine Mutter zu denken. Ich dachte an sie, wenn ich aufwachte, und abends auf dem Sofa, vor dem Einschlafen, wenn wir im Dunkeln lagen, wenn Isti mit sich selbst redete und mit einer Hand Kreise an die Zimmerdecke malte, dachte ich an sie, an Vali und die anderen, und immer öfter zwang ich mich, auch am Tag daran zu denken, auch, wenn es hell war, weil die Bilder zu verschwinden anfingen. Wenn ich über die Felder lief, legte ich meine Hände auf die Augen, preßte sie an die Schläfen, trommelte gegen meine Stirn, aus Angst, nicht mehr zu wissen, wie es gewesen war, mit uns, mit ihr. Bei Isti war ich mir nicht sicher, vielleicht hatte er die Bilder verbannt, in diesem Sommer, hier, irgendwo an einem der äußersten Punkte des Landes, wo der Himmel eher weiß als blau war, vielleicht hatte er sich von unserer Mutter verabschiedet, vorher schon, vielleicht war es ihm gelungen, sie zu strafen für etwas, das sie getan hatte, ohne dazusein. Wenn Anna ansetzte, uns auf ihre Art zu trösten, wenn sie von unserer Mutter redete, davon, daß sie zurückkehren würde, eines Tages, weil Anna sicher war, niemand könne allein bleiben, sagte Isti, wer will das hören, wir bestimmt nicht.
Aber ich, ich dachte weiter an sie, weil ich nicht aufhören konnte damit, weil etwas in mir genau das nicht zuließ. Auch als der Herbst kam, dachte ich an sie, der Herbst und mit ihm dieses Grau, das sich ausbreitete, in der Luft, über den Dächern, als wir nicht atmen konnten, ohne den Rauch, den Ruß zu schmecken, und Isti sagte, es riecht nach Verbranntem. Ich dachte an sie, wenn wir mit Anna in der Küche saßen, wo jetzt die Fenster beschlugen, während im Hof die Krähen dieses Geräusch machten, bei dem man weiß, es wird Winter, und als der erste Schnee fiel, dachte ich an sie, weil auch auf sie irgendein Schnee gefallen war.
Meine Angst um Isti hatte zugenommen, sie wurde schlimmer als in den Sommern am See, schlimmer als meine Angst um ihn, wenn er geschwommen war oder Hühnchen gegessen hatte. Isti wußte nicht mehr, ob er schlief und träumte oder ob er wachte, und ich sollte es ihm sagen, aber wenn ich erklärte, du bist wach, wir reden doch, deine Augen sind offen, fing Isti an zu weinen und fragte, warum lügst du, ich schlafe doch. Isti sah keine Gesichter mehr, er konnte sie nicht erkennen, erst, wenn jemand anfing zu reden, konnte er auch dessen Gesicht sehen, und wenn ich ihn fragte, und mein Gesicht?, schüttelte Isti den Kopf. Er sagte, die Dinge schmecken nach Glyzerin, nach Seife, nach Handcreme, er spuckte sein Essen aus, zurück auf seinen Teller, und als unser Vater es aufgab, ihn dafür zu ohrfeigen, wußte ich, Isti war auf dem Weg in eine Art Vogelfreiheit. Unser Vater blieb ruhig, selbst als Isti den Zwinger öffnete und die Hunde freiließ, in einer dieser Nächte, als wir Kopf an Fuß und Fuß an Kopf auf dem Sofa lagen und Isti aufwachte, weil er die Hunde bellen hörte und dieses Bellen nicht mehr ertragen konnte. Er stand auf, ging ohne Schuhe über den Hof, ließ die Hunde aus dem Zwinger, öffnete das Tor zur Straße, und dann liefen sie ins Dorf, und Isti schrie so laut er konnte, bellt nur, soviel ihr wollt, bellt
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