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Der Schwur der Venezianerin

Der Schwur der Venezianerin

Titel: Der Schwur der Venezianerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Tschauder
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der Werkstatt für den Tag gehen hieß. Ihr Herr würde sich sicher mit der Inspiration auseinandersetzen und seine gefundene Zauberformel zu Papier bringen.
    Dies tat Francesco. Seine Zauberformel befasste sich indes nicht mit Blei und Gold, nicht mit Alchemie und der Umwandlung des niederen Metalls in das höhere, absolut reine. Seine Zauberformel hieß Liebe oder sexuelle Lust und Sehnsucht, hieß Begierde und Schönheit. Seine Zauberformel hieß Bianca. Schon formte er die geschwungenen Linien und Zeichen in wundervolle Worte und Sätze. Seine Liebe gab er nicht zu erkennen, seine Sehnsucht verschwieg er, seine sexuelle Lust erst recht. Hingegen brachte er die Worte Güte und Vorsehung, Großherzigkeit und Verantwortung zum Ausdruck.
    Der gehetzte Page erschien rechtzeitig, um den soeben vollendeten Brief mit dem Siegel des Herrn zu verschließen. Dann schaute der Kronprinz des Herzogtums Toskana in die Augen von Bartolo zog ihn an seinem Ärmel zu dem offenen Fenster, in dem vor wenigen Augenblick sein Stern erschienen war, und wies dort hin.
    „Bartolo höre zu“, sprach er vertraulich. „Dort hinter diesem Fenster verbergen sich Gehetzte aus Venedig, die den Herzog um Schutz vor Verfolgung ersucht haben. Wir haben ihnen diesen Schutz großzügig gewährt, so wie es im Sinne der toskanischen Herrscher liegt. Wir haben unterdessen versäumt, uns weiterhin um diese Gejagten zu kümmern. Ich will dies hiermit und sogleich nachholen. Höre zu, Bartolo. Erfülle deine Aufgabe gewissenhaft und streng vertraulich, lass niemanden von deinem Auftrag erfahren. Auch die Menschen in dem Haus dürfen nichts von deiner Herkunft wissen. Geselle dich zu ihnen, als seiest du einer von ihnen. Frage nach dem Frauenzimmer in der ersten Etage. Übergebe nur ihr, hörst du, nur ihr diese Nachricht, niemandem sonst. Bartolo. Die arme Verfolgte heißt Bianca Cappello, merke dir ihren Namen. Gehe dorthin mit einer Botschaft der Notare aus dem Palazzo Vecchio. Sage jedem es gehe um einen Hauskauf, der geklärt werden müsse. Hier ist der Brief und jetzt gehe. Ich vertraue auf dich.“
    Noch ehe sich der fragende Mann weitere Gedanken machen konnte, hatte ihn der Prinz aus der Werkstatt geschoben, und Bartolo stand auf der Straße. Er war erfahren in der Überbringung konspirativer Nachrichten und geheimnisvoller Dokumente. So verließ er denn auch den Klosterhof nicht durch den Haupteingang. Eine kleine Tür am rückwärtigen Teil der hohen Mauern erlaubte ihm ein unerkanntes und unbeobachtetes Verlassen von San Marco. Bald wurde er von dem Kronprinzen entdeckt, der im Dunkel der Werkstatt einige Meter hinter dem offenen Fenster stand und die Vorgänge neugierig beobachtete. Als Bote aus der Gilde der Notare betrat Bartolo das gegenüberliegende Haus und war für eine Weile verschwunden. Unruhig stapfte Francesco in der Giftküche umher, unwillig über die lange Wartezeit. Noch nie schien er soviel Muße gehabt zu haben, um die Instrumente und Gerätschaften betrachten zu können. Auch seine Werkstatt, den Räumen und Zellen des Klosters San Marco angeglichen, verfügte nicht über Glasfenster. So musste auch hier bei Kälte und Regenwetter die Impannata herhalten, um die Fenster zu verschließen.
    Auf breiten Holztischen versammelten sich Metalle in fester und in pulverförmigen Zustand. Die Inhalte von Flaschen und Glasbehältern glitzerten und funkelten in roten und grünen Farben, violett mischte sich mit gelbem Leuchten, bläuliche und rot schimmernde Pulver suchten nach Vermählung mit unscheinbaren blassblauen Stoffen. Blei im Zustand von geriebenen Körnchen, dünn und platt gewalzt oder in Erzform, sie alle strebten nach der Transformation, der Vergöttlichung des Niederwertigen zum absoluten Reinen, dem einzig Wahren, dem Gold. Auf runden Tonsäulen schwankte in Glaskolben mit langen, gebogenen Hälsen der Stoff zur Unendlichkeit. Die Tonsäulen waren die Öfen, in denen zu normalen Zeiten das gleichmäßige, nicht übertriebene und nicht zu schwache Feuer mit seiner Energie die Umwandlung beschleunigen sollte. Der dunkelhaarige Mann mit seinen weichen, manchmal drohend stechenden Augen betrachtete die Schöpfkellen aus Holz, die Gewinde der Pressen, unter denen sich manch ein Metall verformen musste, die Reiben und Schleifwerkzeuge, Schüsseln, Retorten und anderweitige Destillationsgerätschaften. Er machte einen kleinen Schritt auf einen kostbaren Schrank zu, öffnete ihn und entnahm ihm ein daumengroßes, funkelndes

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