Der Schwur des Maori-Mädchens
grüne Pflanzenwelt mit ihren fremdartigen Geräuschen hinauf auf den Berg zu Matui geeilt und in die Geschichte ihrer Familie eingetaucht. Es fiel ihr allerdings schwer, sich vorzustellen, dass der abweisende Mann ihr gegenüber der nächste Familienangehörige war, den sie auf dieser Welt hatte. Ihr eigener Vater.
Ihre Blicke trafen sich. Täuschte sie sich, oder entdeckte sie zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, etwas Verletzliches hinter seiner kühlen Fassade?
Sie wollte sich abwenden. Als ein leises Lächeln über sein Gesicht huschte, mochte sie es nicht glauben. Vor allem nicht, dass es tatsächlich ihr galt. Doch begann er nun, ohne sie aus den Augen zu lassen, zu reden.
»Ja, liebe Vivian, ich wünsche dir alles Glück dieser Welt, nach allem, was du durchmachen musstest. Lieber Ben, ich glaube, dass du es wirklich gut mit ihr meinst, und deshalb hast du meinen Segen. Wenn ihr wollt, werde ich euch trauen.« Der Bischof redete mit einem Mal so vertraut, als wären sie eine Familie.
»Auf keinen Fall«, entfuhr es Vivian, während Ben gleichzeitig erfreut ausrief: »Das wäre wunderbar!«
Vivian wurde es heiß vor Scham. Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Das ist alles nur Fassade!, schrie es verzweifelt in ihrem Innern. In ihren Ohren begann es zu rauschen, so als würden sich die Wellen des Ozeans in ihnen brechen.
»Liebling, ist dir nicht gut?«, hörte sie wie von ferne Bens besorgte Stimme fragen.
»Verzeiht mir, ich ... ich glaube, ich brauche ein wenig frische Luft«, stammelte sie, während sie aufsprang und nach draußen stürzte.
Zitternd lehnte sie sich an eine schattige Häuserwand. Ich kann das nicht, hämmerte es in ihrem Kopf, der zum Zerbersten schmerzte.
»Vivian, was ist mit dir?« Es war die strenge Stimme des Bischofs.
Müde drehte sie sich zu ihm um.
»Es ist nichts. Die ungewohnte Hitze vielleicht«, entgegnete sie schwach.
Der Bischof trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich habe dich nicht freundlich empfangen. Du bist so unverhofft in mein Leben gestolpert. Und auch, wenn du es mir nicht glaubst, ich habe deine Mutter geliebt, doch ich bin schwach. Es gibt etwas in meiner Vergangenheit, das ich mühsam aus meinem Leben gedrängt hatte. Ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen, weil ich damals fortgegangen bin und deine Mutter und dich einfach zurückgelassen habe. Ich bin davor weggelaufen, und ich kann nicht mehr zurück. Ich habe mich für ein Leben ohne den Makel entschieden. Es ist wie eine Wunde...«
»Keine Sorge, Mister Newman«, unterbrach Vivian ihn kalt. »Von mir wird keiner je erfahren, dass durch Ihre Adern allem Anschein nach Maori-Blut fließt. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt bei den anderen. Ich möchte gern nach Hause.«
Vivian wandte sich abrupt ab und eilte wie betäubt in Richtung ihres Bergs. Sie spürte den Blick des Bischofs förmlich in ihrem Rücken brennen, doch sie drehte sich nicht noch einmal um.
Dunedin, April 1866
Lily saß voller Sorge am Bett der fiebernden Ripeka.
»Ich verstehe das nicht, wir haben es doch alle gehabt, dieses Husten und dieses Fieber, aber warum will es bei dir nicht Weggehen?«
Ripeka holte tief Luft. Dabei rasselte es bedenklich in ihrem Brustkorb.
»Weil es eure Krankheiten sind, gegen die wir machtlos sind«, erwiderte die Maori mit heiserer Stimme.
»Vielleicht sollte ich noch einmal den Arzt holen.«
Ripeka hob abwehrend die Hände. »Bloß nicht diesen Doktor, das ist ein Pakeha-Arzt. Der hat mich spüren lassen, dass ich nur die Haushaltshilfe der Newmans bin und keine Weiße.«
»Ja, aber ich kann doch nicht tatenlos zusehen, wie du immer schwächer wirst. Ich muss doch irgendetwas für dich tun.«
Ripeka legte die Stirn in Falten. »Vielleicht könntest du Doktor Ngata in der Princes Street aufsuchen und um einen Besuch bitten.«
»Doktor Ngata? Wer ist das?«
»Ach, ich traf ihn neulich rein zufällig wieder. Ich hätte ihn gar nicht wiedererkannt, er ist ein Mann geworden, aber er erkannte mich. Sein Vater Arama war ein Heiler von meinem Stamm. Er kam öfter nach Paihia, um unsereins zu behandeln. Eines Tages auch mit seinem Sohn Tamati, der damals noch ein kleiner Junge war. Doch kurz vor dem Ausbruch des Fahnenmastkrieges reiste Arama mit seiner Familie nach London. Ein reicher Londoner wollte sich unbedingt mit diversen Exoten aus aller Welt umgeben. So
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