Der Schwur des Maori-Mädchens
drückte sich Tamati aus, als ich ihn hier in Dunedin wiedertraf. Seine Eltern sind bald darauf in der kalten Stadt gestorben. Der reiche Mann aber hatte einen Narren an ihm gefressen und ließ ihn Medizin studieren. Er war nicht erfreut, als Tamati nach Abschluss seiner Studien nach Neuseeland zurückgekehrt ist, um seinen Leuten zu helfen. Er hat mir jedenfalls angeboten, dass ich ihn jederzeit konsultieren könne, wenn ich Hilfe brauchte ...«Ihre letzten Worte hatte Ripeka nur noch gekeucht.
Lily sprang auf und versprach, diesen Doktor Ngata sofort zu holen. Ripeka war zu schwach zum Sprechen. Sie nickte nur leicht.
»Ich bin gleich wieder bei dir. Mit dem Wunderdoktor.«
Auf dem Flur begegnete ihr Mabel Newman.
»Wie geht es ihr?«
»Nicht gut. Ich werde jetzt auf ihren Wunsch hin einen Doktor Ngata holen.«
»Wer soll das denn sein? Wir haben doch einen guten Arzt.«
Lily hob die Schultern. »Doktor Ngata ist Maori, und Ripeka möchte lieber von ihm behandelt werden.«
Mabel kräuselte die Lippen. »Seit wann gibt es unter den Maori Mediziner?«, bemerkte sie spitz und ging weiter.
Lily stieß der herablassende Ton ihrer zukünftigen Schwiegermutter zwar auf, aber sie hatte in den letzten zwei Jahren gelernt, vieles hinunterzuschlucken. Schließlich hatten die Newmans nach dem spurlosen Verschwinden von Lilys Vater und dem Tod ihrer Mutter Elternstelle für sie angenommen. Inzwischen war sie auch ganz offiziell mit Edward verlobt, den sie seitdem allerdings nur zweimal kurz gesehen hatte.
Dass ihr Vater sich nach England abgesetzt hatte, berührte sie nicht sonderlich. Ihr war es nur furchtbar unangenehm, dass er sich wegen seiner Schulden bei ihrem zukünftigen Schwiegervater aus dem Staub gemacht hatte. Der Verlust ihrer Mutter hingegen schmerzte sie fürchterlich. Wenn sie nur daran dachte, wie sie an jenem Tag erwartungsvoll an der Pier gestanden und vergeblich versucht hatte, ihre Mutter unter den winkenden Menschen an der Reling auszumachen, wurde ihr immer noch schwer ums Herz. Es war ihr, als wäre es gestern gewesen und nicht schon vor beinahe zwei Jahren: wie sie langsam eine böse Ahnung beschlichen hatte, als June nicht gekommen war. Wie sie dann am ganzen Körper bebend auf das Schiff gegangen war. Wie der Kapitän ihr die Nachricht von Junes leisem Tod überbracht hatte. Sie war am Tag der Ankunft nicht mehr aufgewacht. Man hatte es erst gemerkt, nachdem sie ihre Kabine nicht verlassen hatte ...
Lily musste an ihr friedliches, entspanntes Gesicht denken. Das war ihr einziger Trost. Ihre Mutter hatte nicht leiden müssen. Trotzdem wurde ihr ganz kalt bei dem Gedanken, dass sie nun eine Waise war. Deshalb durfte Ripeka nichts geschehen! So viel stand fest. Lily eilte in ihr Zimmer und nahm sich ein wenig Geld aus ihrem Versteck. Das hatte sie damals bei den Sachen ihrer Mutter gefunden und wollte es Edward nach seiner Hochzeit geben.
Immer wenn sie an ihren fernen Verlobten dachte, überkam sie ein schlechtes Gewissen. Weniger weil sie sich ihm beim letzten Mal hingegeben hatte, sondern weil es keine schöne Erinnerung war, bei der ihr die Knie weich wurden.
Im Gegenteil, es hatte einfach nur wehgetan. Wie ein Mehlsack hatte er auf ihr gelegen. Selbst der Kuss, als er in ihr Zimmer geschlichen war, hatte fade geschmeckt. Lily schüttelte sich. Das war es also, wovon Frauen hinter vorgehaltener Hand sprachen, meist verbunden mit einem verschämten Kichern. Sie hatte es ihm zu Gefallen über sich ergehen lassen. Er hatte sie plötzlich mit Kosenamen belegt, die sie noch nie zuvor aus seinem Mund gehört hatte, er hatte gekeucht und gestöhnt wie ein Wahnsinniger. Die Vorstellung, dass dies zu ihrem Ehealltag gehören würde wie die tägliche Morgentoilette, behagte ihr ganz und gar nicht.
Sie versuchte sich damit zu trösten, dass es womöglich nur beim ersten Mal so schlimm war. Doch dieses Erlebnis hatte ihre Gefühle für Edward zusehends verändert. Während er sich nach ihr zu verzehren schien und ihr leidenschaftliche Briefe schrieb, kostete es sie einige Mühe, ihm entsprechend zu antworten. Lieber löcherte sie ihn mit Fragen nach seinem Studium. Er hatte ihr netterweise seine alten Bücher mitgebracht, die er nicht mehr brauchte. Die verschlang sie regelrecht, und daher wusste sie auch, dass so ein bisschen Husten und Fieber keine tödliche Gefahr darstellten, jedenfalls nicht für die Pakeha. Dieses Wort war ihr neulich versehentlich in
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