Der Schwur des Maori-Mädchens
Gegenwart ihres zukünftigen Schwiegervaters herausgerutscht. Er hatte sehr ungehalten reagiert. »Bei dir färbt wohl die Gesellschaft dieser alten Maori ab«, hatte er gezischt.
Lily war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht gemerkt hatte, dass sie bereits in der Princes Street angekommen war. Seit sie in diese Stadt gezogen war, hatte sich vieles verändert. Wo man vor zwei Jahren in Dunedin noch alle paar Meter im Schlamm stecken geblieben und über Unrat gestolpert war, gab es nun zunehmend befestigte Wege. Die Holzhütten waren zum Teil Häusern aus Stein gewichen. In so einem Haus aus rotem Stein wohnte auch der Maori-Doktor.
Nachdem Lily zaghaft an die Tür geklopft hatte, passierte erst einmal eine lange Zeit gar nichts. Dann erklang lautes Fluchen von innen, bis die Tür aufgerissen wurde.
»Entschuldigen Sie bitte, mich hat gerade meine Hilfe verlassen, um zu heiraten, und jetzt muss ich alles allein machen. Kommen Sie doch rein!«
Tamati Ngata hielt ihr die Haustür auf und ließ sie eintreten. Dann führte er sie zu seinem Sprechzimmer. Die Mengen an Tiegeln, die in einem Schrank hinter einer Glastür standen, faszinierten Lily auf der Stelle.
»Sind das alles Heilmittel?«, fragte sie neugierig.
»Ja, das habe ich von den hiesigen Heilem gelernt. So viele Kräuter gab es in London nicht, aber ich muss mich schon wieder entschuldigen. Ich rede einfach drauflos und weiß gar nicht, wer Sie sind.« Er reichte ihr die Hand. »Ich bin Tamati Ngata - und Sie?«
Als seine Hand ihre Finger umschlossen, war das, als würde ein Blitz einschlagen. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und blickte den Doktor irritiert an. Er war einen Kopf größer als sie, kräftig gebaut, hatte nicht so eine dunkle Haut wie Ripeka, aber es gab keinen Zweifel daran, dass er ein Maori war. Er besaß sowohl die geschwungenen Lippen als auch diese glühenden Augen, was für die Männer oben in Wanganui so charakteristisch gewesen war. Sein Benehmen aber durch und durch englisch. Sie schätzte ihn auf acht bis zehn Jahre älter, als sie es war.
Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie sich immer noch nicht vorgestellt hatte.
»Ich bin Lily Carrington und mache mir große Sorgen um meine Kinderfrau Ripeka.«
»Was ist mit ihr?«
»Sie hustet und fiebert. Es will und will nicht besser werden. Und sie hat nach Ihnen geschickt.«
Das freundliche und offene Gesicht des Doktors verdüsterte sich.
»Diese verdammten Pakeha-Krankheiten!«, schimpfte er, doch dann fügte er sachlich hinzu: »Sie müssen wissen, das ist der Grund, warum ich aus London weggegangen bin. An der Universität wurden Stimmen laut, die den Maori kaum langfristige Überlebenschancen einräumten. Am Ende des Jahrhunderts seien sie ausgestorben, hieß es. Und in der Tat, dasselbe, was Ihren Körper kurzzeitig schwächt und Sie danach wieder problemlos genesen lässt, kann uns umbringen.«
Lily hatte Probleme, den Inhalt seiner Worte vollständig aufzunehmen, weil allein der Klang seiner rauen Stimme ihr Herz zum Klopfen brachte. Sie nickte, damit er es nicht bemerkte. Ihr Blick blieb an seinen Händen hängen. Der Gedanke, der ihr nun durch den Kopf schoss, beschämte sie zutiefst. Sie stellte sich vor, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn diese Hände ihre Schenkel in jener Nacht gestreichelt hätten. Sie lief vor lauter Verlegenheit rot an.
»Wissen Sie was? Ich komme gleich mit. Dann sehe ich mir die Patientin mal an. Schauen Sie nicht so entsetzt. Noch besteht Hoffnung«, sagte er und strich ihr beim Aufstehen tröstend über die Hand. Auch diese flüchtige Berührung ging ihr durch und durch. Was ist nur mit mir los?, fragte sie sich, bevor sie aufstand und ihm zum Haus der Newmans folgte.
An der Tür stießen sie mit Tomas Newman zusammen. Als er den Maori in seinem tadellos sitzenden Anzug sah, war ihm seine Verunsicherung sichtlich anzumerken.
»Mit wem habe ich die Ehre?«, fragte er gestelzt.
»Doktor Tamati Ngata, ich wurde von dieser jungen Dame gebeten, nach Ripeka zu schauen.«
»Die junge Dame ist meine angehende Schwiegertochter. Sind Sie denn überhaupt Arzt?«
Lily fand diese Frage ungehörig. Was sollte er wohl sonst für ein Doktor sein? Außerdem war es ihr unangenehm, dass Tomas sogleich deutlich gemacht hatte, in welchem Verhältnis sie zueinander standen.
Tamati aber blieb freundlich.
»Ja, Mister ... äh ... wie war Ihr Name?«
»Newman!«
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