Der Schwur des Maori-Mädchens
Sie denn wirklich, dass er wiederkommt?«
»Ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Er kommt zurück, sobald er erledigt hat, was er einst seinem sterbenden Freund versprochen hat.«
»Sie meinen, er will Henry töten? Aber dann müssen Sie Ihren Mann warnen ...«
»Muss ich das?«, fragte June kalt.
»Nein, das müssen Sie nicht. Im Gegenteil...«
»Ich habe ihm gesagt, wo er Henry finden kann. Und ich hoffe, dass er seinen Plan erfolgreich umsetzen wird.«
»Aber bedenken Sie, was sein Tod für ein Schock für Lily wäre. Sie stehen sich zwar nicht so nahe, aber er ist immerhin ihr Vater.«
»Es geht das Gerücht, dass sich mein Mann nach England absetzen will, und dieses Gerücht werde ich verbreiten. Was guckst du mich so ungläubig an, Ripeka? Hat er es verdient oder nicht?«
»Schon, aber so kenne ich Sie gar nicht. Das passt nicht zu Ihnen. Sie haben doch so ein gutes Herz ...«
»Das krank geworden ist, weil ich still gelitten habe, oder glaubst du etwa, das sei alles spurlos an mir vorübergegangen, seine Gleichgültigkeit mir gegenüber, sein ständiges Trinken und das Wissen, dass er unten am Fluss eine oder mehrere Geliebte hat? Wie oft habe ich mit dem Gedanken gespielt, mich leise aus diesem Leben fortzuschleichen, aber ich habe es Lilys wegen nicht in die Tat umgesetzt. Für dieses Kind hat es sich zu leben gelohnt.«
In Ripekas Gesicht stand jetzt so etwas wie Bewunderung für diese sonst eher lammfromme Frau geschrieben. Nein, sie konnte June keinen Vorwurf machen, dass sie Matthews Racheplan unterstützte. Auch sie, Ripeka, würde Henry Carrington mit Sicherheit keine einzige Träne nach weinen.
Whangarei, Februar 1920
Ben hatte Vivian eine Überraschung versprochen, als er sie an diesem Tag bei Matui abholte. Beim ersten Zusammentreffen mit dem Reporter hatte der alte Maori keinen Hehl aus seiner Ablehnung gegen den jungen Halbmaori gemacht. Heute hatte er sich ihm gegenüber schon wesentlich freundlicher verhalten. Vivian vermutete, es könne daran liegen, dass sie den alten Maori inzwischen in ihre Heiratspläne eingeweiht hatte. Seine erste Reaktion auf diese Nachricht hatte Vivian allerdings schwer erschüttert. »Aber du liebst doch den falschen Sohn des Bischofs. Warum heiratest du einen anderen?«, hatte er sie erstaunt gefragt.
Allein bei dem Gedanken an diesen Satz bekam Vivian heiße Ohren. Sie hatte das natürlich vehement abgestritten, aber dem alten Maori konnte sie nichts vormachen. Er hatte sich zwar nicht mehr dazu geäußert, aber seine Blicke sprachen Bände.
Vivian seufzte tief. Seit drei Tagen war Matui zu erschöpft, um ihr weiterzuerzählen. Dabei interessierte sie der Fortgang der Geschichte brennend. Ob Matui ihr irgendwann beichten würde, dass er Henry umgebracht hatte? Sie hatte ihm jedenfalls verschwiegen, dass man dessen Überreste in Oneroa entdeckt hatte. Sie hegte immer noch gemischte Gefühle gegenüber dieser fürchterlichen Art der Rache. Natürlich konnte sie auch June irgendwie verstehen, aber Mord war in ihren Augen einfach keine Lösung.
»Was bewegst du denn Schweres in deinem hübschen Köpfchen?«, fragte Ben, der stehen geblieben war und ihr mit der Hand zärtlich über die Stirn fuhr. »Du siehst ganz zergrübelt aus. Das passt aber nicht zu meiner Überraschung.«
»Und was würde passen?«
»Das strahlende Lächeln einer glücklichen Braut.« Er lachte.
Vivian warf den Kopf in den Nacken und verzog den Mund zu einem verunglückten Lächeln. »So vielleicht?«
»Gott bewahre!«, lachte er.
Als Antwort streckte sie ihm die Zunge heraus.
»Und so etwas darf dir schon gar nicht passieren. Das ist der Überraschung mehr als abträglich.«
»Ach, nun mach es doch nicht so spannend! Du wirst mir doch kein Hochzeitskleid ausgesucht haben, oder?«
»O nein, in Kleiderfragen vertraue ich der Lady aus London. Da würde ein Mann, der im hintersten Winkel der Welt zu Hause ist, mit Sicherheit danebengreifen.«
Jetzt musste Vivian ebenfalls lachen, und sie stieß ihn zärtlich in die Seite. »Weißt du, warum ich dich heiraten werde?«
»Weil du mich liebst, hoffe ich«, erwiderte er prompt.
»Weil du mich andauernd zum Lachen bringst.«
»Gut, dann diene ich eben deiner Belustigung. Schlimmer wäre es, ich würde dich langweilen.«
»So habe ich das doch nicht gemeint«, erwiderte sie entschuldigend. »Ich bin nur etwas vorsichtig, wenn es um Gefühle
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