Der Schwur des Maori-Mädchens
aufschlug.
Tamati reichte ihr die Hand und half ihr beim Aufstehen. »Sie sollten sich sofort ins Bett legen. Das ist alles zu viel für Sie.«
Lily aber schüttelte heftig den Kopf. »Ich ... ich ... also, ich habe eine Bitte. Könnten Sie mich wohl untersuchen? Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Seit Tagen wird mir aus heiterem Himmel übel, und ... es wird nicht besser.«
»Kommen Sie, Sie begleiten mich, ich versuche der Sache auf den Grund zu gehen und gebe Ihnen die Mittel für Ripeka mit. Sie müssen es übrigens nicht vor ihr verbergen. Sie weiß, dass die Ahnen auf sie warten, und sie ist bereit. Ihre einzige Sorge gilt Ihnen und dass Sie glücklich werden.«
Lily kämpfte mit den Tränen, doch dann hakte sie sich bei dem Maori unter und ging schnellen Schrittes mit ihm zur Princes Street.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als er sie bat, sich auf den Behandlungsstuhl ihm gegenüber zu setzen.
»Haben Sie schon früher einmal an Übelkeit gelitten?«, fragte er mit sanfter Stimme.
»Nein, es ist seit höchstens zwei Wochen, und es überkommt mich häufig am Morgen. Dann ist es so heftig, dass ich mich übergeben muss. Am Tag kann ich meist das Schlimmste verhindern.«
Tamati Ngata musterte sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck.
»Bevor ich Sie untersuche, muss ich Sie etwas sehr Persönliches fragen ...« Er unterbrach sich und räusperte sich verlegen, doch dann blickte er sie aus seinen braunen Augen warmherzig und offen an. »Sind Sie mit Ihrem Verlobten ... ?«
Wieder unterbrach sich der Maori und suchte nach den richtigen Worten, doch Lily hatte verstanden. Sie sah ihn aus schreckensweiten Augen an.
»Um Himmels willen, Sie wollen doch damit nicht etwa andeuten, dass ich in anderen Umständen bin?«
Tamati Ngata hob die Schultern. »Die Vermutung liegt nahe, und unter uns, das ist doch wohl wesentlich besser, als wenn Sie krank wären.«
»Aber wir sind nicht verheiratet. Mein Verlobter studiert in Sydney Medizin und wird erst zu Weihnachten endgültig zurückkehren.«
Der Arzt lächelte Lily gewinnend an. »Ich denke, seine Familie wird dafür sorgen, dass er schnellstens zurückkehrt, um Sie zu heiraten. Und ganz ehrlich, ich beneide ihn ein wenig.«
Lily stockte der Atem. Hatte sie geträumt, oder hatte er diese Worte wirklich gesagt? Dass ihr Herz in Aufruhr war, das konnte sie unschwer länger vor sich selbst verbergen, aber dass dies Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte, hätte sie niemals erwartet. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, bemerkte sie forsch: »Dann sollte er sich beeilen, denn es muss an Neujahr passiert sein. Das war das einzige Mal, dass er in mein Zimmer gekommen ist. Und Sie sind sich wirklich sicher, dass ich nur ein Kind bekomme?«
»Vollkommen sicher«, erwiderte Tamati, stand auf und begann damit, einige Kräuter zu mischen. Lily hatte den Eindruck, es war ihm unangenehm, dass er ihr einen Einblick in seine Gefühle gewährt hatte. Jedenfalls schien er nun nichts anderes mehr im Sinn zu haben als seine Tiegel.
»Hier, das nehmen Sie mit. Und verbringen Sie viel Zeit an ihrem Bett. Ripeka liebt Sie über alles.«
»Ich weiß«, flüsterte Lily und wartete darauf, dass er ihr zum Abschied die Hand entgegenstrecken würde, doch sie wartete vergeblich.
»Ich wünsche Ihnen alles Gute«, murmelte er hastig und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Dort war er unerreichbar für sie. Es ist besser so, sprach sie sich gut zu. Ich werde ihn niemals Wiedersehen und bald vergessen. Dann verließ sie sein Haus und rannte los.
Ripeka strahlte, als sie in ihr Zimmer trat.
»Schau, das hat mir der Doktor für dich mitgegeben!«, rief Lily zur Begrüßung und zeigte ihr das Fläschchen. »Du sollst gleich einen Schluck nehmen, hat er gesagt.«
»Hat er dir auch gesagt, wie es um mich steht?«, fragte Ripeka ohne Umschweife. Lily räusperte sich, während sie sich auf die Bettkante setzte und Ripeka das Fläschchen reichte. Die aber stellte es energisch auf dem Nachttisch ab und strich stattdessen über Lilys Hand.
»Für mich ist es höchste Zeit, zu den Ahnen zu gehen. Darum sei nicht traurig, mein Kind.«
»Bitte, sag doch so etwas nicht! Du bist bei mir, und das hoffentlich noch sehr lange«, entgegnete Lily verzweifelt, und dann fügte sie nachdenklich hinzu: »Ich hätte so gern mehr über deinen Stamm und dein Volk erfahren. Du hast mir immer viele Geschichten erzählt, aber
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