Der Schwur des Maori-Mädchens
ich wüsste so gern ...« Lily stockte und blickte schwärmerisch in die Ferne.
»Kann es sein, dass Tamati Ngata dich mehr berührt, als du zugeben willst?«, fragte Ripeka, und die pure Neugier blitzte aus ihren Augen.
»Dir konnte ich noch nie etwas vormachen. Du hast schon immer meine geheimsten Gedanken erraten«, seufzte Lily. »Aber du darfst es niemandem verraten.«
Ripeka lachte. »Erst wenn ich bei den Ahnen bin. Dann werde ich vielleicht darüber plaudern.«
»Ich weiß nicht, was mit mir ist. Tamati Ngata kommt mir seltsam vertraut vor. Und als er mir die Hand gab, dachte ich, ich müsse verbrennen. So heiß war mir. Das ist doch nicht rechtens. Ich meine, er ist ein Maori, und ich bin eine Pakeha, verlobt mit einem Pakeha ...« Lily kämpfte mit sich. Sollte sie Ripeka etwas von dem Kind erzählen? Nein, noch nicht. Sie wollte selbst erst einmal eine Nacht darüber schlafen, bis sie ihre Schwiegereltern und auch Ripeka von dem Malheur in Kenntnis setzte. Außerdem hätte sie den Gedanken, dass sie bald eine Familie mit Edward gründen würde, gern noch ein wenig auf später geschoben. Auf morgen, wenn der Zauber dieser Begegnung mit dem Maori-Arzt erloschen war.
Ein lautes Aufstöhnen Ripekas riss sie aus ihren Schwärmereien für den fremden Doktor. Die Maori bäumte sich auf. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Sie presste die Hände gegen den Brustkorb.
»Es ist so weit«, keuchte sie. »Die Ahnen rufen nach mir, aber ich darf dich nicht in Unwissenheit zurücklassen.«
Lily wurde bleich. Sie drückte Ripekas Hand und redete auf die Maori ein. »Nein, du bleibst bei uns. Bitte geh nicht! Ich brauche dich doch.«
Mit einem Seufzer sank Ripeka zurück in ihre Kissen. »Willst du wissen, warum Tamati Ngata dein Herz berührt?«, keuchte sie.
»Pst!«, machte Lily. »Nicht reden. Du musst dich ausruhen.«
»Nein, ich muss es sagen«, krächzte die Maori. »Komm ganz nahe an mein Ohr! Ich kann nur noch flüstern.« Lily tat, was Ripeka von ihr verlangte, und obwohl sie jedes Wort verstehen konnte, vermochte sie den Sinn doch nicht wirklich zu erfassen. Sie sollte das uneheliche Kind ihres Vaters mit einer Maori sein? Nein, Ripeka musste sich irren.
»Das kann nicht sein«, protestierte sie entsetzt. »Sieh mich doch an! Ich habe helle Haut und rotblondes Haar ...«
»Und die braunen Augen deiner Mutter. Weder dein Vater noch June besaßen braune Augen.« Ripekas Worte waren immer schwerer zu verstehen.
Lily war wie betäubt. Waren das die Worte einer Frau, die im Todeskampf ihren Verstand verloren hatte, oder konnte das die Wahrheit sein?
»Und warum hat Mutter ... ich meine June ... mich als ihr Kind aufgezogen, wenn ich eine andere Mutter hatte?«
»Deine Mutter ist gestorben. Deshalb hat June es getan und dich immer wie ein eigenes Kind geliebt.«
Es kostete Ripeka unendlich viel Kraft, dem Mädchen wenigstens das eine Geheimnis ihrer Herkunft anzuvertrauen und zugleich von dem anderen, dem wirklichen Drama, nichts durch-blicken zu lassen. Und Ripeka wiegte sich in der Sicherheit, dass sie allein die Herrin der Wahrheit war. Außer ihr gab es niemanden auf dieser Welt, der Lily jemals würde sagen können, was wirklich geschehen war. Denn dem einzigen Menschen, der ihr Wissen teilte, waren sie entkommen. Niemals würde er sie aufspüren. Das war beruhigend. Doch nun würde ihr kleines Mädchen wenigstens verstehen, warum ihr die Maori so erstaunlich nahe waren und sie trotzdem eine Pakeha bleiben würde.
Bei diesem Gedanken huschte ein friedliches Lächeln über Ripekas Gesicht, während sie die Augen für immer schloss.
Dunedin, September 1866
Lily fühlte sich inzwischen wie eine Tonne. Sie konnte sich kaum mehr normal bewegen und hoffte täglich, dass ihr Kind endlich kommen möge. Der Tod ihrer Kinderfrau hatte sie schwer getroffen, und ihre letzten Worte wollten und wollten ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Doch was sollte sie tun? Es gab keinen Menschen, den sie danach fragen konnte. Sie hatte keine Familie mehr außer der ihres Mannes.
Ihre Hochzeit im Mai war an ihr vorübergezogen wie ein Traum, aber nicht wie jener Wunschtraum ihrer Jugend, sondern wie eine unwirkliche Erscheinung, die nur eine verschwommene Erinnerung hinterlassen hatte. Sie musste sich jedes Mal sehr anstrengen, um die Bilder an jenen Tag in ihr Gedächtnis zu rufen. Das Wichtigste war für ihre Schwiegermutter gewesen, die Schwangerschaft
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