Der Schwur des Maori-Mädchens
doch ich kam zu spät. Der Schlachter hatte sein Handwerk bereits gründlich vollendet. Lily, Sie haben kurz die Augen aufgeschlagen und dann nach meiner Hand gegriffen. Er hat es gesehen, und ich las den Hass in seinen Augen. Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Es ist Ihr Wohl, das mir mehr am Herzen liegt als alles andere. Und auch ich muss meinen inneren Frieden wiederfinden. Und da kommt es mir gerade recht, dass ein Freund von mir, der eine Praxis in der Nähe von Auckland hat, gern in den Süden möchte. Wir werden tauschen. Im Norden werde ich meinen Frieden wiederfinden.«
Lily blickte an ihm vorbei ins Leere. »Und was ist mit mir? Mit wem soll ich in Zukunft über alles reden?« Sie unterbrach sich hastig und sah ihn erschrocken an. »Entschuldigen Sie, dass ich so selbstsüchtig bin, aber Ihre Nähe hat es mir überhaupt nur ermöglicht, dieses Leben zu ertragen, in dem nur die Konventionen zählen und es keine Leidenschaft gibt. Für gar nichts! Außer wenn es darum geht, mich zu einem folgsamen Eheweibchen zu erziehen!«
»Bitte, glauben Sie mir, das da...« Er deutete auf ihre blaue Verletzung an der Schläfe. »Das wird in Zukunft nicht mehr Vorkommen.«
»Was macht Sie da so sicher?«
»Weil Sie nicht mehr in die Lage kommen, mich verteidigen zu müssen, und er sich dadurch nicht mehr erniedrigt fühlt.«
»Sie haben recht. Es wird alles gut«, sagte Lily leise. Dass sie kein bisschen daran glaubte, war unüberhörbar.
»Sie sind tapfer, und vielleicht wird er Ihnen ja erlauben, an unserer Universität selbst Medizin zu studieren. Im Juli wird man den Lehrbetrieb aufnehmen und auch Frauen zum Studium zulassen. Ich kenne da einen der Professoren und würde schon einmal im Vorweg ein gutes Wort für Sie einlegen ...«
Lily lächelte. »Das würden Sie tun? Ach, das wäre zu schön, um wahr zu sein.«
»Versprechen Sie mir das eine: Setzen Sie alles daran, Ihren Mann davon zu überzeugen, dass an Ihnen eine Medizinerin verloren gegangen ist! Werden Sie das tun? Ja?« Tamati blickte ihr tief in die Augen und trat einen Schritt auf sie zu. Ohne zu überlegen, schlang sie die Arme um seinen Hals und bot ihm ihren Mund zum Kuss. Voller Leidenschaft küssten sie sich. Lily spürte das Kribbeln bis in die Fußspitzen. Sie hätte nicht gedacht, was für ein wunderbares Empfinden ihr ein solcher Kuss bereiten würde. Ihr ganzer Körper war in Aufruhr, und sie wollte nur noch eines von ganzem Herzen: die Hände dieses Mannes auf ihrer erhitzten Haut spüren.
Lily hörte die quengelnde Kinderstimme - »Mom, können wir jetzt los?« - zwar von Weitem, aber sie begriff nicht gleich, was das bedeutete. Tamati hatte die Situation schneller erfasst. Er löste sich von Lily und blickte den Jungen, der mit offenem Mund vor ihnen stand, freundlich an. »Ja, deine Mutter geht jetzt mit dir nach Hause. Du hast ja lange genug im Wartezimmer gesessen.« Er wandte sich um, griff in ein Glas und reichte dem Jungen ein Bonbon.
Das Kind aber versteckte trotzig die Hände hinter dem Rücken und stierte seine Mutter, die sich nicht rührte, fassungslos an.
Langsam, ganz langsam schien Lily zu verstehen, dass ihr Sohn sie gerade in inniger Umarmung mit einem fremden Mann ertappt hatte. Und das, wo er seinen Vater regelrecht vergötterte. Was sollte sie bloß tun? Sich mit Floskeln wie Es ist nicht so, wie du denkst oder Ähnlichem herausreden? Ihm erklären, dass sie sich nur von dem dunkelhäutigen Doktor verabschiedet hatte?
Sie entschied sich, so zu tun, als ob nichts geschehen wäre. »Komm, Peter, wir müssen nach Hause.« Sie nahm seine Hand. Er wehrte sich nicht.
»Auf Wiedersehen, Doktor Ngata, ich wünsche Ihnen alles Gute«, sagte sie mit fester Stimme, während ihr ein Kloß im Hals förmlich die Kehle zuschnüren wollte. Doch sie verließ die Praxis, ohne sich noch einmal umzudrehen. Als sie auf die Straße traten, setzte sie alles daran, sich Peter gegenüber so normal wie möglich zu verhalten. Sie fragte ihn, was er heute essen wolle, doch sein Mund blieb verschlossen. Trotzig presste er die Lippen aufeinander.
»Bist du böse auf mich?«
Sie bekam keine Antwort.
Kurz vor ihrem Haus blieb sie stehen und beugte sich zu dem blassen Jungen mit den rotblonden Locken und den ernsten braunen Augen hinunter.
»Bist du böse auf mich?«, wiederholte sie und hoffte, dass er das Beben ihrer Stimme nicht wahrnahm. Langsam breitete sich Panik in ihr aus. Nicht
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