Der Schwur des Maori-Mädchens
auszudenken, er würde alles brühwarm seinem Vater berichten. Dann wird er mich niemals zur Universität lassen, durchfuhr es sie eiskalt, und sie schämte sich für ihre selbstsüchtigen Gedanken. Aber sollte sie nicht eher Scham empfinden wegen des Kusses? Doch dieses Gefühl wollte sich partout nicht einstellen. Im Gegenteil, sobald sie nur flüchtig daran dachte, spürte sie nichts als Wonne.
Lily blickte unschlüssig in das abweisende Gesicht ihres Sohnes. Fieberhaft überlegte sie, wie sie ihn zum Schweigen bringen konnte. Da fiel ihr etwas ein, womit sie ihn auf ihre Seite zu ziehen hoffte. Peter wünschte sich sehnlichst eine Puppe, einer der wenigen Wünsche, die Edward ihm rigoros abschlug. »Ein Junge bekommt keine Puppen«, pflegte er streng zu sagen.
»Wünschst du dir zu deinem fünften Geburtstag immer noch eine Puppe?«, fragte Lily in schmeichelndem Ton.
Peter presste die Lippen nur noch fester zusammen, doch Lily gab nicht auf. Es war ihre einzige Chance, sich ihren Sohn zum stummen Verbündeten zu machen.
»Wenn du immer noch eine Puppe möchtest, wird sie zu deinem Geburtstag auf deinem Gabentisch liegen. Aber du musst mir sagen, ob du sie noch willst.«
Peter nickte.
»Gut, dann kümmere ich mich darum. Allerdings muss ich dich um einen Gefallen bitten ...« Lily stockte. Sie kam sich so unendlich schäbig vor, das Schweigen ihres Vierjährigen zu erkaufen, aber hatte sie eine andere Wahl? Nicht auszudenken, er würde Edward von ihrem Besuch bei Tamati erzählen, ganz zu schweigen von dem Kuss. Lily befürchtete, ihr Mann würde sie grün und blau schlagen. Nicht zu vergleichen mit den gelegentlichen Ohrfeigen, wenn er sich von ihr bloßgestellt fühlte.
Ihre Schwiegereltern, die seine Wutausbrüche zwangsläufig mitbekommen mussten, weil sie immer noch im gleichen Haus wohnten, hüllten sich in Schweigen. Mabel sah sie manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, mitleidig an. Nein, von heute an würde sie ihm eine gute Ehefrau sein, die ihn in ihr Bett ließ, wann immer er es verlangte, und keine Widerworte gab. Dann bestand die Chance, dass er sie studieren ließ. Lily räusperte sich. »Also, du sagst Vater am besten nicht, wen wir heute besucht haben und ... na ja, dass ich ihm auf Wiedersehen gesagt habe, weil er weit fortgeht.«
Peters Blick verfinsterte sich noch mehr. Lily strich ihm über die Wange.
»Was meinst du? Kannst du mir den Gefallen tun? Dafür liegt an deinem Geburtstag im September eine Puppe auf dem Tisch.«
Peter nickte, bevor er sagte: »Ich will jetzt zu Vater nach Hause.«
»Natürlich«, beeilte sich Lily zu sagen und sprang auf.
Die ersten Tage nach diesem Vorfall zitterte sie jedes Mal, wenn Edward in der Nähe war. Zu tief saß ihre Angst, Peter könnte sich verplappern, doch nachdem mehr als eine Woche vergangen war, schien die Gefahr gebannt. Nun konnte sie sich daranmachen, ihren Plan in Angriff zu nehmen. Zu ihrer großen Erleichterung merkte Edward schnell, dass sie sich redlich bemühte, ihm eine gute Ehefrau zu sein. Und an dem Tag, an dem er von sich aus einen schwierigen Fall aus seiner Praxis schilderte, hatte sie gewonnen. In dieser Nacht war sie besonders zärtlich zu ihm und wunderte sich selbst am meisten darüber, wie sie das Ganze hinter sich bringen konnte ohne den Funken einer Empfindung. Immer wenn sie den Ekel spürte, der sie in Abständen überkam, stellte sie sich vor, sie würde Seite an Seite mit ihm in der Praxis arbeiten. Eines Tages würde sie den werdenden Müttern so helfen können, wie Tamati Ngata ihr geholfen hatte. Für dieses Ziel lohnten sich diese Mühen, zumal sie zunehmend zu einer List griff. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, dass es der Maori wäre, dem sie sich hingab. Das machte ihre ehelichen Pflichten zwar noch immer nicht zu einem reinen Vergnügen, aber es erleichterte sie ihr ungemein.
Dunedin, September 1871
Lily war nicht wiederzuerkennen, seit sie zu den ersten Studenten der Universität von Dunedin gehörte. Sie strahlte geradezu vor Glück. Aus den verliebten Blicken, die Edward ihr ständig zuwarf, schloss sie, dass er glaubte, es liege an der Ehe.
Auch Mabel bemerkte diese Veränderung. Und ihr war es mehr als recht, dass ihre Schwiegertochter zum Studieren ging. So hatte sie Peter ganz für sich. Tomas sah das Ganze anders. Er fand es unmöglich, wie sich seine Schwiegertochter aufführte, doch es gelang ihm nicht mehr, seinen Sohn
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