Der Schwur des Maori-Mädchens
bist wie Doktor Claydon. Ich hatte gehofft, du bist so klug und suchst den Austausch mit deinem mutigen Kollegen. Ich dachte, du könntest etwas von ihm lernen ...«
Sie zuckte zusammen, als Edward die Hand hob, so als wolle er sie schlagen, sie aber gleich wieder sinken ließ. Sein Gesicht war knallrot angelaufen und die Falte auf seiner Stirn so tief eingekerbt wie ein Krater.
»Mein Vater hat recht. Du nutzt schamlos aus, dass ich dich bislang als ebenbürtig betrachtet habe. Das geht zu Lasten deiner Weiblichkeit. Du bist meine Frau, nicht mein Freund oder, schlimmer noch, mein Kollege.«
Lily war kalkweiß geworden. »Aber ich möchte doch nur, dass wir eine Praxis haben, in der sich die Menschen aufgehoben fühlen, weil wir auch etwas wagen und neuen Erkenntnissen gegenüber offen sind. Es ist nämlich eine Frage der Dosierung, habe ich nachgelesen. Je höher ...«
»Halt deinen Mund!«, zischte er. »Ich muss mich nicht von meiner Frau belehren lassen.«
»Aber wir beide, wir ziehen doch an einem Strang. Wenn wir erst unsere Praxis ...«
»Ich werde eine Praxis haben. Das ist richtig, aber auf deine Hilfe kann ich verzichten. Du bist ja gar keine Frau mehr. Glaubst du, ich habe nicht gemerkt, wie du mir in den zwei Wochen, seit ich wieder hier bin, ständig ausweichst? Du hast mich noch nicht einmal auf deine Bettseite gelassen. Glaubst du, ich merke das nicht? Lern erst einmal, mir eine gute Ehefrau zu sein.«
Ohne Vorwarnung packte er sie grob am Arm und schleuderte sie auf das Bett. Blitzschnell schob er ihr das Kleid so hoch, dass sie beinahe an dem Stoff erstickte. Dann zerrte er an ihrer Unterkleidung. Dabei stöhnte und ächzte er. Sie schrie auf, als er in sie eindrang. Der Schmerz fuhr wellenförmig durch ihren ganzen Körper, doch sie wehrte sich nicht. Wie tot ließ sie alles über sich ergehen, während sie etwas unwiederbringlich verlor: die Achtung vor ihrem Mann.
Dunedin, April 1871
Die Ehe zwischen Lily und Edward war zur reinsten Hölle geworden. Vier lange Jahre hatte sich Lily immer wieder in die Praxis des Maori-Doktors geflüchtet, wenn Edward die Hand ausgerutscht war, wie ihr Mann es nannte. Und nun wollte Doktor Ngata einfach gehen!
Mit hängenden Schultern stand Lily vor ihm und sah ihn traurig an.
»Aber warum geben Sie auf? Sie haben doch so viele Patienten, und alle sind begeistert...«
»Lily, es ist kein Platz für mich in dieser aufgeheizten Stimmung, die Ihr Mann gegen mich schürt. Er erzählt jedem, dass ich schuld am Tod Ihrer kleinen Tochter bin.«
Schon bei der Erwähnung des Mädchens, dem es nicht vergönnt gewesen war, auf diese Welt zu kommen, schossen Lily die Tränen in die Augen. Wenngleich sie die Umstände, wie sie gezeugt worden war, kaum verdrängen konnte.
»Aber das war doch dieser Stümper von Claydon. Er kann Sie nicht dafür verantwortlich machen.«
»Sehen Sie, er hat Einfluss in der Stadt. Wenn er nur lange genug das Märchen erzählt von dem Maori-Arzt, der bei der Geburt ihres Sohnes die werdende Mutter so verletzt hat, dass sie keine weiteren gesunden Kinder mehr gebären kann ... Dagegen bin ich machtlos.«
»Ich stelle das doch stets richtig, wenn ich es mitbekomme«, entgegnete Lily gequält.
Tamati strich ihr zärtlich eine Locke aus dem Gesicht. Darunter wurde eine bläuliche Verfärbung ihrer Haut sichtbar.
»Der Preis, den Sie für Ihren Mut bezahlen müssen, ist zu hoch. Ich ertrage es nicht, dass man Ihnen wehtut. Ihr Mann hasst mich so sehr, dass er Sie so lange quälen wird, wie ich in Ihrer Nähe bin.«
»Aber ... aber er weiß doch gar nicht, dass ich manchmal herkomme ...«
»Das vielleicht nicht, aber er ist, auch wenn es nicht immer so aussehen mag, ein feinfühliger Mann. Er ahnt, dass ich Sie liebe.«
Lily hielt den Atem an. Noch nie hatte er so offen über seine Gefühle gesprochen. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte sich ihm in die Arme geworfen, um ihm zu zeigen, dass es ihr ebenso ging. Stattdessen aber blieb sie steif stehen und fragte: »Woher soll er es wissen? Er hat uns doch niemals zusammen gesehen, nicht wahr?«
»Sie vergessen jene Nacht, als Ihre Tochter geboren werden sollte. Ich weiß, dass Sie sich nicht mehr erinnern, aber ich glaube, es ist besser, wenn Sie es wissen. Dann haben Sie vielleicht sogar Verständnis für Ihren Mann. Als er merkte, dass Doktor Claydon es nicht schafft, hat er nach mir schicken lassen,
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