Der Schwur des Maori-Mädchens
Lily blickte in das geschockte Gesicht seiner Mutter. »Aber ... aber das kannst du doch nicht tun!«, stammelte Mabel.
»Du verlässt Dunedin noch heute. Verstanden? Wenn ich dich jemals Wiedersehen sollte, schlage ich dich tot.« Edwards Wangen glühten vor Hass.
»Aber Junge, denk an Peter!« Mabel war den Tränen nahe.
»Edward, du wirst dich doch nicht verrückt machen wegen dieser Frau. Sperr sie ein, erteil ihr die Lektion, die sie braucht, aber denk an den Skandal«, geiferte sein Vater.
Edward aber scherte sich nicht um die Worte seiner Eltern. »Was stehst du hier noch herum? Pack deine Sachen! Und du, Mutter, begleite sie! Damit sie nicht auf den Gedanken kommt, das Kind mitzunehmen.«
»Bitte, Edward, sei vernünftig! Ich mache alles, was du willst. Ich höre auf zu studieren. Ich ... bitte, bitte lass mich bei meinem Kind bleiben!«, flehte Lily ihren Mann an, aber er ging an ihr vorbei zur Tür und hielt sie weit auf. »Eine halbe Stunde gebe ich dir. Dann bist du aus diesem Haus verschwunden und kommst nie wieder.«
»Aber Peter ...«
»Er wird glauben, du bist tot.«
»Edward, das kannst du nicht machen. Wir haben uns doch einmal geliebt.«
»Richtig, das haben wir, aber nun kenne ich nur noch zwei Gefühle für dich: Hass und Verachtung. Wenn du hierbleibst, werde ich mich nicht länger beherrschen können. Geh mir aus den Augen! Ich wollte nie eine Maori zur Frau!«
Wie betäubt setzte Lily einen Fuß vor den anderen und verließ das Zimmer, gefolgt von ihrer Schwiegermutter. »Ich glaube das nicht«, murmelte sie immerzu. »Ripeka war nicht mehr Herrin ihrer Sinne.«
Lily warf ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer, zusammen mit den medizinischen Büchern und anderen persönlichen Dingen.
»Er wird sich wieder beruhigen. Geh nicht so weit fort. Bitte. Peter braucht dich doch.« Mabel schien ehrlich verzweifelt.
Schließlich packte Lily noch das Bündel mit dem Geld ihrer Mutter in den Koffer und schloss ihn. Er war so schwer, dass sie ihn kaum heben konnte.
Auf dem Flur vor Peters Zimmer setzte sie ihn ächzend ab. »Darf ich mich von ihm verabschieden?«
Mabel stöhnte gequält auf. »Du hast doch gehört, was er gesagt hat.«
»Du bist doch selbst eine Mutter. Kannst du wirklich so grausam sein?«
Das genügte, um Mabel zu überzeugen. »Nun geh schon«, schluchzte sie. »Es wird wieder gut, es wird alles wieder gut!«
Vorsichtig öffnete Lily die Tür zum Kinderzimmer. Peter saß zusammengekauert in einer Ecke. Als er seine Mutter sah, lief er ihr in die Arme. Sie drückte ihn, so fest sie konnte, an sich. Erst Mabels künstliches Hüsteln holte sie aus dieser verzweifelten Umarmung. Sanft löste sie sich daraus.
»Mein Kleiner, du musst jetzt tapfer sein. Mama wird eine Weile nicht zu Hause sein. Aber die Großmutter ist da.«
Peter aber klammerte sich an sie. »Du sollst nicht verreisen, Mama!«, schluchzte er.
Lily hörte zwar, dass Mabel einen heiseren Schrei ausstieß, aber sie kümmerte sich nicht weiter darum. Stattdessen nahm sie Peter auf den Arm. »Ich komme doch bald wieder«, versuchte sie ihn zu trösten, bis ihr der Junge unsanft entrissen wurde.
Edwards Gesicht glühte vor Hass, obwohl er Peter auf dem Arm hatte. »Deine Mama lügt«, zischte er dem Kind zu. »Sie verlässt uns für immer, weil sie zu dem Mann geht. Sie hat uns nicht mehr lieb ...«
»Edward, bitte!«, flehte seine Mutter, doch er fuhr ungerührt fort, auf seinen am ganzen Körper bebenden Sohn einzureden. »Sie kommt nie wieder!«
Lily wandte sich mit Grauen ab. Sie ertrug Peters Qual nicht. Diese Mischung aus Verzweiflung, Unverständnis, Ungläubigkeit und Angst in seinem kleinen verweinten Gesicht. Ihre Knie zitterten, als sie auf den Flur trat und ihren schweren Koffer in die Hand nahm. Sie war bereits bei der Haustür, als sie laute Schritte hinter sich vernahm. Sie wollte sich nicht umdrehen, doch Edward stürmte an ihr vorbei und versperrte ihr den Weg nach draußen.
»Wage nicht, noch einmal an der Universität aufzukreuzen. Ich werde mich dafür verwenden, dass du keine einzige Vorlesung mehr hörst.«
»Ja, Edward, ich verschwinde aus der Stadt«, entgegnete Lily schwach und versuchte, sich an ihm vorbeizudrücken. Vergeblich, denn er stand da wie eine Mauer, als wolle er sie in Wahrheit gar nicht gehen lassen. Lily verstand das als letzte Chance. »Edward, ich verstehe deinen Zorn, aber bitte,
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