Der Schwur des Maori-Mädchens
meinen Arm«, bot ihr Wiramu an, half ihr beim Aufstehen und brachte sie nach Hause. Matui erwartete sie schon ungeduldig auf der Veranda, der schönsten in der ganzen Straße. So hatte er sich einst dafür bedankt, dass Tamati und Lily ihn so herzlich aufgenommen hatten.
»Und?«
»Meine Tochter lebt, aber die Frau Doktor gehört ins Bett«, erklärte Wiramu.
»Es geht schon wieder«, entgegnete Lily. »Das war nur ein kleiner Schwächeanfall. Nichts weiter.«
»Keine Widerrede, du legst dich hin.«
Lily schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich möchte zu ihm.« Sie drückte sich an den beiden Männern vorbei ins Haus und ging geradewegs in das Behandlungszimmer. Tamati sah wirklich aus, als ob er schliefe. Lily holte sich einen Stuhl und setzte sich neben die Liege. Während sie ihm in allen Einzelheiten berichtete, wie sie das Kind im Mutterleib gedreht hatte, nahm sie seine erkaltete Hand und streichelte sie. Und plötzlich war ihr, als höre sie ihn sagen: Das hast du großartig gemacht, meine kleine Lily, ich bin stolz auf dich.
Lily verließ das Behandlungszimmer erst, als längst die Nacht angebrochen war.
Mangawhai, Februar 1885
Tamati war jetzt schon über ein Jahr tot, und Lily besuchte ihn, sooft es ihre Zeit erlaubte, auf dem Maori-Friedhof. Seit sie die Praxis führte, arbeitete sie meistens von frühmorgens bis zum späten Abend. Anfangs hatte sie Skrupel gehabt, seine Arbeit fortzusetzen, doch die Frauen in und um Mangawhai hatten ihr keine Wahl gelassen. Sie konnte ihnen hundertmal versichern, dass sie keine Frau Doktor sei. Es war sinnlos, denn es hatte sich längst herumgesprochen, was für eine hervorragende Arbeit sie leistete. Und da es seit dem Tod der alten Hebamme weit und breit keine andere Geburtshilfe gab, erledigte Lily dies. Und wenn sie nicht in der Praxis oder bei ihren Patienten war, verschlang sie die Fachliteratur, die sie sich aus Europa kommen ließ. Besonders fasziniert war sie von der Sectio Caesarea, dem Kaiserschnitt, der in Europa immer häufiger bei Geburtsproblemen vorgenommen wurde. Nur leider starben bei dieser Methode, das Kind durch eine Operation zur Welt zu bringen, die meisten Mütter. Das hatte nicht einmal Tamati gewagt.
»Auf Wiedersehen, Liebster«, flüsterte sie und warf seinem Gesicht, das vor ihrem inneren Auge erschien, als wäre er immer noch am Leben, eine Kusshand zu. Sie vermisste ihn schrecklich.
Es war ein heißer Tag, und ihr Kopf machte sich wieder einmal unangenehm bemerkbar. Seit ihrem Sturz von der umgekippten Kutsche litt sie in regelmäßigen Abständen an Kopfweh, aber das wusste keiner. Nicht einmal Matui, dem sie sonst so gut wie alles anvertraute und der seit Tamatis Tod noch wichtiger für sie geworden war.
Schon von Weitem sah sie die Frau, die vor ihrem Haus auf sie wartete. Sie war unübersehbar hochschwanger. Lily beschleunigte ihren Schritt und fragte sich, wer diese Fremde wohl sein mochte. Sie hatte sie noch nie zuvor in dieser Gegend gesehen. Der Kleidung nach zu urteilen, handelte es sich um eine wohlhabende Frau.
»Sind Sie Lily Ngata?«, fragte die Fremde, bevor sie sich ihr selbst vorstellen konnte.
»Ja, die bin ich. Und Sie wollen sicher zu mir in die Praxis, nicht wahr?« Lily musterte eindringlich den Bauch der Frau. So prall, wie er war, musste die Fremde kurz vor der Entbindung stehen.
»Ja, ich habe viel von Ihnen gehört, aber können wir schnell ins Haus gehen? Wenn mein Mann uns zusammen sieht, dann wird er sehr böse.«
Verunsichert führte Lily die Schwangere in den Behandlungsraum und bot ihr einen Stuhl an.
»Wie meinten Sie das eben mit Ihrem Mann? Warum darf er uns nicht zusammen sehen?«
»Nicht alle lieben Sie. Nicht alle nennen Sie voller Hochachtung den Engel der Maori. Einige Farmer haben ihren Frauen verboten, Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Mein Mann gehört dazu. Er findet, Pakeha wie ich hätten bei Ihnen nichts verloren ...«
»Und warum sagen Sie mir das?«
»Damit Sie verstehen, in was für einer schrecklichen Zwickmühle ich stecke, denn Sie sind meine einzige Hoffnung. Mit dem Kind stimmt etwas nicht. Es bewegt sich nicht mehr. Und ich müsste längst entbunden haben.«
»Wie ist Ihr Name?«
»Claire Füller.«
»Gut, Claire, dann legen Sie sich bitte auf die Liege und machen Sie Ihren Bauch frei«, ordnete Lily äußerlich völlig unaufgeregt an, obwohl ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Sie hatte ein
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