Der Schwur des Maori-Mädchens
draußen.
Lily musste den Blick abwenden. Er zog sie wie einen Sack Kartoffeln hinter sich her. Sie starrte Matui voller Entsetzen an, bis das unflätige Fluchen des betrunkenen Burschen endlich verklungen war.
»Ich habe ihr nicht helfen können. Sie wird sterben«, schluchzte Lily.
Der Maori hockte sich zu ihr auf den Boden, legte ihr den Arm um die Schultern und ließ sie erst wieder los, nachdem sie sich an seiner Brust restlos ausgeweint hatte. Sie war verzweifelt. Ein entsetzliches Gefühl der Hilflosigkeit lähmte sie.
Mangawhai, Februar 1885
Lily hatte keine ruhige Nacht mehr, seit jedermann in Mangawhai von dem qualvollen Tod der jungen Claire Füller wusste. Wie Lily befürchtet hatte, war die Hochschwangere auf dem Weg in die Berge auf dem schaukelnden Wagen, auf den ihr Mann sie wie ein Stück Vieh geworfen hatte, jämmerlich verblutet. Und nun behauptete ihr Mörder überall, sie, Lily Ngata, habe sein Kind und seine Frau auf dem Gewissen. Die weißen Frauen mieden ihre Praxis, seit der Mann in der gesamten Gegend die Unwahrheit verbreitet hatte. Die Maori-Frauen aber suchten sie weiterhin auf. Matui stand ihr treu zur Seite und verteidigte sie gegen die üble Nachrede. Er war der festen Überzeugung, dass der Farmer seine Frau nicht aus purer Sorge um ihr Leben aus der Arztpraxis verschleppt hatte. Und so hatte Matui begonnen, Nachforschungen über Mister Füller anzustellen, und war dabei auf interessante Ergebnisse gestoßen. Der Farmer hatte seine Frau schon von Anfang der Ehe an misshandelt. Das hatte man Matui unter vorgehaltener Hand verraten. Als er Lily davon berichtete, verriet sie ihm, welche Verletzungen sie am Körper der Frau mit eigenen Augen gesehen hatte.
Matui hatte ein ungutes Gefühl. Er traute diesem Kerl allerhand zu, aber er wollte Lily nicht unnötig beunruhigen. Es war alles schon schlimm genug, wenn jene Frauen, die Lily viel zu verdanken hatten, die Straßenseite wechselten, wenn sie ihr begegneten. Er hatte seine Zweifel, ob es gut für sie wäre, hierzubleiben, doch Lily lehnte mögliche Umzugspläne rigoros ab. »Ich kann doch die Frauen nicht sich selbst überlassen, sie brauchen mich«, behauptete sie und gab sich überhaupt kämpferisch. Dabei sah Matui doch genau, dass sie immer schwächer wurde, weil ihr diese unzumutbare Situation die Kräfte raubte.
Doch an diesem Tag konnte er ihr wenigstens eine Freude bereiten. Das hoffte er jedenfalls, denn er hatte soeben einen Brief aus Dunedin bekommen. Über ein Jahr lang hatte der Maori vergeblich auf dieses Schreiben gewartet. Mit zittrigen Fingern öffnete er den Brief und las angespannt die Zeilen, die der junge Mann in seiner akkuraten Schrift zu Papier gebracht hatte.
Sehr geehrter Herr Hone Heke, Sie baten mich jüngst, umgehend nach Mangawhai zu reisen, um meine Mutter zu sehen. Das möchte ich nicht. Aber ich werde im April nach Auckland kommen, um von dort aus für eine gewisse Zeit nach London zu gehen. Da meine Großeltern inzwischen verstorben sind, steht einem einmaligen Treffen in Auckland wohl nichts im Wege. Das Schiff legt am 26. April ab. Ich schlage vor, dass wir uns am 25. am Anleger treffen. Ich werde gegen sechzehn Uhr dort sein, wo das Schiff, die Queen Victoria, ablegen wird, um mein Gepäck an Bord zu bringen. Bitte richten Sie das meiner Mutter so aus. Und es wäre mir lieb, wenn Sie nicht mitkämen, denn ich habe kein Interesse, einen ihrer Maori-Freunde kennenzulernen. Hochachtungsvoll
Peter Newman
Der überhebliche Ton dieser Zeilen nahm Matui ein wenig von der Freude, dass es Lily endlich vergönnt sein würde, ihren Sohn wiederzusehen. Er hat eben nichts anderes gelernt und ist zeitlebens gegen die Maori aufgehetzt worden, dachte Matui grimmig. Er versuchte gegen seinen Groll anzukämpfen und murmelte: »Wenn du wüsstest, mein Junge, welches Blut durch deine Adern fließt.«
»Führst du neuerdings Selbstgespräche?«, neckte ihn Lily, die gerade von einer Patientin gekommen war. »Stell dir vor, es war die Frau vom Kolonialwarenhändler. Ihr Mann ist gerade unterwegs, neue Waren zu kaufen, und da hat sie mich geholt. Du siehst, es regelt sich alles. Bald ist Gras über die Sache gewachsen, dann werden auch die Männer wieder vernünftig.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, erwiderte Matui, der ihren Optimismus nicht teilen wollte. Dann kündigte er ihr feierlich eine Überraschung an.
»Am besten setzt du dich«, forderte er sie auf.
Lily
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