Der Schwur des Maori-Mädchens
verstreut. Nachdem das Dorf verwaist war, bin ich mit ein paar Getreuen hierhergekommen. Mit Brüdern und Schwestern, denen wie mir in den Orten der Pakeha und in deren Nachbarschaft die Luft zum Atmen fehlte. Maori, die wie ich im Einklang mit den Kräften der Natur leben müssen. Außer mir wohnen nur noch wenige Alte hier oben. Die Jungen zieht es nicht mehr hierherauf. Das Haus habe ich selbst gebaut. Allerdings ganz nach Art der Pakeha. Ich kann leider nicht mehr in dunklen Hütten leben wie meine Ahnen. Und vielleicht zeige ich euch nachher sogar unseren Versammlungsraum und das alte Vorratshaus, das ich aber nicht mehr benutze. Das Essen jedes Mal herzuholen ist zu anstrengend für mich. Wenn ihr wollt, zeige ich euch meine Schnitzereien. Und den Friedhof...« Wieder unterbrach er sich und blickte in die Ferne. Ein Schleier der Trauer hatte sich über seine sonst so wachen und blitzenden Augen gelegt.
Vivian war verunsichert. Es überkam sie wieder jenes Gefühl, das sie bereits von ihrer Begegnung auf der Wiese kannte. Das Gefühl, ihn zu stören, weil er in eine ferne Welt abgetaucht war, zu der allen anderen der Zugang verwehrt war. Als würde er manchmal bereits ins Jenseits hinübergleiten ... Vivian fröstelte.
Ihr Blick traf den von Fred. Auch er machte einen ratlosen Eindruck.
Doch ganz plötzlich wandte sich Matui ihnen wieder zu und sagte mit klarer Stimme: »Um euch diese Geschichte zu erzählen, brauche ich die Kraft der Ahnen. Erschreckt nicht, wenn ich sie zu mir hole. Ich muss mich mit ihnen verbinden, wie es unsere Krieger früher getan haben.«
Langsam erhob sich der alte Mann und griff nach einem geschnitzten länglichen Stock. Dann zog er seine Schuhe aus und ging ein wenig in die Hocke, die Beine weit auseinandergestellt, die nackten Füße fest auf den Boden gestemmt. Einen Augenblick lang verharrte er so, während er die Muskeln anspannte. Dabei veränderte sich auch sein Gesichtsausdruck. Alles straffte sich, und wie von Zauberhand bekam er die Züge eines jungen Kriegers mit gefährlich funkelnden Augen.
Vivian zuckte zusammen, als sich seiner Kehle ein lauter Schrei entrang, dann ein weiterer. Dazu stampfte er mit den nackten Füßen auf den Boden, breitete die Arme aus und reckte sie zum Himmel, so als würde er nach etwas greifen. Das wiederholte er ein paarmal, während er in einen unheimlichen Sprechgesang verfiel und den Stock vor sich herumwirbelte. Zwischendurch schnitt er Grimassen, wobei er die Zunge bis zum Kinn herausstreckte. Wenn nicht alles von solcher ursprünglichen Kraft durchdrungen gewesen wäre, Vivian hätte es vielleicht lächerlich gefunden, aber so flößte ihr das Gebaren des Alten Respekt ein.
Dann blieb er still stehen und schloss die Augen. Binnen weniger Augenblicke veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er war wieder der alte Mann mit dem schwarzen Tattoo, das sich in Falten über sein Gesicht legte. Nun öffnete er die Augen. Auch diese gehörten wieder Matui Hone Heke, dem alten Mann, der, wie er von sich selbst sagte, eigentlich gar nicht mehr leben durfte.
»Nun kann ich euch die Geschichte erzählen. Ich weiß, dass ihr beiden die Richtigen seid. Ja, mehr noch, ich bin mir sicher, dass ihr geschickt worden seid, um mir zu helfen, der richtigen Person einen Ehrenplatz vor der Kirche zu geben.«
Vivian kämpfte mit sich selbst. Sollte sie wirklich zulassen, dass Fred Matuis Enthüllungen lauschte? Obwohl sie doch genau wusste, dass er es später in reißerischer Verpackung vor der Öffentlichkeit ausbreiten würde? Nein, sie musste ihn zwingen, einen Schwur abzulegen, den er nicht so ohne Weiteres zu brechen wagte.
»Haben Sie eine Bibel?«, fragte Vivian den Maori.
Er runzelte die Stirn und sagte in harschem Ton: »Nein!«
Vivian sah ihn forschend an. »Worauf würden denn die Maori einen Schwur ablegen?«
»Bei den Ahnen«, erwiderte er.
»Gut, dann schwöre ich bei den Ahnen, dass ich nichts, was hier geschieht und gesagt wird, einem Dritten verraten werde.« Sie hob den Blick und sah Matui unverwandt in die Augen.
»Tamahine«, flüsterte er gerührt.
Vivian überlegte kurz, ob sie ihn bitten sollte, die Worte zu übersetzen, aber sie traute sich nicht, diesen innigen Moment mit einer solchen Frage zu zerstören. Es fiel ihr schwer, den Blick von seinen gütigen Augen loszureißen, die ihr so viel Geborgenheit vermittelten.
Nachdem ihr das gelungen war, wandte sie sich kämpferisch an
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