Der Schwur des Maori-Mädchens
du krank bist. Morgen ziehen Henry und June in ihr neues Haus drüben in Russell, das ihnen John Hobsen hat bauen lassen, und wenn sie fort sind, überlegen wir, was zu tun ist. Oder hast du es ihm etwa schon gesagt?« Letzteres klang panisch.
»Er hat ein Recht, es zu erfahren.«
»Er wird es gar nicht wissen wollen, mein Kind. Er würde es wahrscheinlich abstreiten, und kein Mensch würde dir glauben. Und wenn du meinst, er solle es unbedingt erfahren, warum hast du es ihm denn nicht schon längst mitgeteilt?«
Erneut füllten sich Maggys Augen mit Tränen. »Er ist mir doch in den letzten Wochen immer nur aus dem Weg gegangen, und außerdem habe ich doch gar nicht gewusst, was mit mir geschehen ist, bis ...«
»Bis wann?«, kreischte Emily auf. »Weiß etwa noch jemand davon?«
Maggy stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ripeka hat mich vor ein paar Tagen so merkwürdig angeschaut. Dann hat sie mir auf den Kopf zugesagt, dass, wenn man es nicht besser wüsste, man meinen müsste, dass ich ein Kind erwarte ...«
»Und du? Was hast du gesagt?«
»Ich habe es geleugnet, obwohl ich ahnte, dass sie recht hat.«
»Und dein Bruder?«
»Ich wollte es Matthew erzählen, aber er hatte keine Zeit für mich. Heute Abend wollte ich endlich mit ihm sprechen.«
»Das, mein Kind, wirst du schön sein lassen! Du wirst mit keinem Menschen mehr darüber reden. Und nun ruh dich aus. Ich werde alle grüßen.« Emily sprang auf, beugte sich über das Mädchen und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Sie wollte nur noch weg aus diesem Zimmer, alles vergessen, bis das Fest vorüber und Henry mit June sicher in Russell war. Und was dann?, hämmerte es in ihrem Kopf. Es wird sich schon eine Lösung finden, die für alle gleichermaßen gut ist, redete sie sich vehement ein.
Emily hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass sich Maggy weinend an sie klammern würde. »Lass mich nicht allein! Bitte!«, flehte sie.
Emily kämpfte mit sich. Konnte sie das Kind jetzt wirklich ihrem Schicksal überlassen, ohne auszuschließen, dass sie womöglich dummes Zeug machen, auf der Hochzeitsgesellschaft auftauchen und die Wahrheit verkünden würde?
»Maggy, du musst mir schwören, dass du mit keinem Menschen darüber sprichst, bis ich eine Lösung gefunden habe.«
»Ich schwöre es«, wiederholte Maggy wenig überzeugend.
Emilys Blick fiel auf die Bibel, die das Mädchen stets auf dem Stuhl neben dem Bett liegen hatte. Emilys Atem ging schwer, aber schon während sie nach der heiligen Schrift griff, war sie überzeugt davon, dass sie keine andere Wahl hatte.
Mit zitternden Händen hielt sie ihrer Ziehtochter das Buch hin und befahl: »Schwöre es auf die Bibel!«
Maggy sah sie mit großen, verheulten Augen an.
»Ich habe gesagt: Schwöre es auf die Bibel!«
»Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen: Ich werde keiner Menschenseele verraten, dass ich ein Kind erwarte und wer der Vater ist«, stöhnte Maggy gequält.
»Du weißt, was geschieht, wenn du diesen Eid brichst?«, fragte Emily streng.
Maggy nickte. »Ja, dann kommt Unheil über die Menschen.«
»Genau, dann wird deinen Liebsten etwas Schlimmes zustoßen. Und du bist schuld«, fügte sie drohend hinzu.
Maggy legte die Bibel aus der Hand, schlüpfte unter die Decke und drehte sich zur Wand.
Emily seufzte schwer. »Es tut mir doch leid, und ich verspreche dir, dass wir eine Lösung finden. Ruh dich nur aus. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.« Dann verließ sie fluchtartig das Zimmer.
Auf dem Flur stieß sie beinahe mit Ripeka zusammen. Das fehlt mir noch, schoss es ihr durch den Kopf, doch sie ergriff die Gelegenheit, um ihrer Hausangestellten den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Ach, Ripeka, bring Maggy doch nachher eine Schüssel Grütze. Etwas anderes darf sie nicht zu sich nehmen, sagt der Arzt. Sie hat böses Bauchweh. Der Doktor dachte schon, sie wäre in anderen Umständen, so aufgebläht ist ihr Leib, aber da hat er sich gründlich geirrt.«
Ohne das verdutzte Gesicht der Maori weiter zu beachten, eilte Emily fort, doch dann drehte sie sich noch einmal um. »Ach ja, sie muss eiserne Bettruhe halten. Und du pflückst bitte drei Sträuße aus dem Garten und verteilst sie im Wohnzimmer.«
Emily klopfte das Herz bis zum Hals, als sie das Haus verließ und zur Kirche eilte. In ihren Augen hatte der Tag seine überirdische Schönheit eingebüßt. Die strahlende
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