Der Schwur
schaute zu ihr hin. Der Wind zerzauste seine helle Mähne.
»Bjarni!«, rief sie und ging auf ihn zu, aber er wandte sich von ihr ab und trabte davon. Sie begann zu laufen, konnte ihn aber nicht einholen. Er lief immer weiter und weiter und irgendwann konnte sie ihn nicht mehr sehen.
Eine Hand berührte ihre Schulter und sie fuhr hoch. Verstört sah sie sich um. »W-was? Was ist los?«
»Alles ruhig«, sagte Darian rasch. »Du hast im Schlaf geweint. Ich dachte, ich wecke dich lieber auf.«
»Geweint?« Verwirrt wischte sie sich mit der Hand über die Augen. Tatsächlich. Aber an ihren Traum konnte sie sich schon nicht mehr erinnern. Da war etwas gewesen … das Wort »windfarben« huschte durch ihren Kopf und war wieder fort. »So ein Quatsch, ich hab nicht geheult. Das ist nur dieses eklige rote Zeug aus den Pilzen! Wie spät ist es?«
»Ich weiß nicht«, sagte Darian. »Ich weiß nicht mal, was das heißt. Bei euch fragen die Leute andauernd, ›wie spät es ist‹. Spät ist spät. Früh ist früh. Was heißt ›wie‹ spät?«
»Was weiß ich – ist es morgens oder abends? Acht oder zehn? Mittag?«
Darian zuckte die Achseln. »Morgen, würde ich sagen. Du hast eine Weile geschlafen.«
»Ach so. Gibt’s was zu essen?«
Er schüttelte nur den Kopf.
Wie konnte er nur so ruhig sein? Melanie war nicht ruhig. Sie hatte Angst und war wütend, und irgendein Bild aus ihrem Traum hatte das bittere Gefühl hinterlassen, betrogen worden zu sein. Im Schlaf geweint? Quatsch! Sie rappelte sich auf, zog den Pullover gerade, lief zur Tür und hämmerte mit den Fäusten dagegen. »Hallo? He! Lassen Sie uns raus! Sie können uns nicht gefangen halten! Darauf steht lebenslänglich, klar? Machen Sie die Tür auf!«
Niemand antwortete. Melanie schlug noch ein paarmal gegen die Tür, dann versuchte sie es mit Fußtritten. Aber obwohl die Bretter ächzten und knackten, gaben sie nicht nach. Schließlich ließ sie die Fäuste sinken und drehte sich um. Als sie bemerkte, dass Darian sie schweigend musterte, fauchte sie: »Was?«
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Klar! Wieso auch nicht?«
»Oh, schon gut. Ich frage ja nur.«
»Ich tu ja auch nichts lieber, als gefangen in stockfinsteren, stinkenden Erdlöchern zu sitzen und auf die Hexe aus Hänsel und Gretel zu warten!«
»Hänsel und Gretel?«
»Hoffentlich hast du ein Knöchelchen dabei.«
»Was? Es tut mir leid, aber ich verstehe nicht, was du –«
»Natürlich verstehst du es nicht! Du verstehst überhaupt nichts!«
Es gab eine Pause. Dann sagte Darian ruhig: »Ich habe uns nicht in diese Lage gebracht.«
»Hättest ja nicht hinterherspringen müssen! Ich wäre schon alleine zurechtgekommen!«
»Mit einem verstauchten Knöchel auf dem Felsvorsprung. Na ganz bestimmt.«
»Lass mich doch in Ruhe!«
Stille.
Ganz so stockfinster war es übrigens nicht. Es gab zwar keine Lampen oder Fenster in diesem Raum, aber durch eine Art Lüftungsschlitz fiel ein Streifen rötliches Zwielicht, von dem Melanie inzwischen genauso genug hatte wie von diesem ganzen Abenteuer. Eine fantastische Welt mit Elfen und Zentauren hatte sie sich vorgestellt, möglichst ein Einhorn für sie allein – und was hatte sie bekommen? Einen Abgrund, einen Kerker und Pilze. Es war gemein und ungerecht. Sie war müde und hungrig und hatte Angst, und außerdem war ihr kalt. Es gab nicht einmal einen Stuhl in diesem Loch; Darian saß an die Wand gelehnt auf dem Boden und sie hockte sich so weit wie möglich von ihm entfernt auch hin. Wenigstens hatten die Gnome sie nicht gefesselt und auch den Dolch hatten sie Darian nicht weggenommen. Aber er hatte ihn bisher noch nicht einmal benutzt, um den Dreck unter seinen Fingernägeln zu entfernen.
Es war ein seltsamer Raum, aber es war auch ein seltsames Haus, in das die Gnome sie nach einem längeren Fußmarsch durch verwinkelte Gänge und noch ein Stück Pilzwald gebracht hatten. Von außen hatte es wie eine aus Wurzeln bestehende Höhle ausgesehen – nur eben über der Erde. Der Platz zwischen den Wurzeln war mit geflochtenen Zweigen ausgefüllt und mit Lehm verschmiert worden. Es gab auch kein richtiges Dach, und als Fenster dienten ein paar unregelmäßige Löcher, die in den Wänden einfach ausgespart worden waren. Erst als die Gnome ein Stück Flechtwerk wie eine Tür öffneten und Melanie und Darian durch ein großes Loch in den Raum dahinter schoben, begriff Melanie, dass dieses Gebilde ein Haus sein sollte. Es gab Möbel: drei schäbige
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