Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen
Keine Adlerfeder, kein Unterscheidungszeichen schmückte diese Frisur, und dennoch sagte man sich gleich beim ersten Blicke, daß dieser noch junge Mann ein Häuptling, ein berühmter Krieger sein müsse. Der Schnitt seines ernsten, männlichschönen Gesichtes konnte römisch genannt werden; die Backenknochen standen kaum merklich vor; die Lippen des vollständig bartlosen Gesichtes waren voll und doch fein geschwungen, und die Hautfarbe zeigte ein mattes Hellbraun mit einem leisen Bronzehauch.
Er blieb einen Augenblick an der Thüre stehen. Ein forschender, scharfer Blick seines dunklen Auges flog durch den Raum und über die in demselben befindlichen Personen; dann setzte er sich in unserer Nähe nieder, von den ihn anstarrenden Rowdies möglichst entfernt.
Man sah es ihm an, daß er die Situation sofort begriffen hatte. Seine Augen zogen sich ein ganz klein wenig und wie verächtlich zusammen, als er einen zweiten, kurzen Blick auf unsere Gegner warf, und als wir uns nun niedersetzten und die Revolver wieder einsteckten, zeigte sich ein kaum bemerkbares und, wie es schien, wohlwollendes Lächeln auf seinen Lippen.
Die Wirkung seiner Persönlichkeit war so groß, daß sich bei seinem Eintreten eine wahre Kirchenstille einstellte. Diese Geräuschlosigkeit mochte den Wirth überzeugen, daß die Gefahr vorüber sei. Er steckte den Kopf zur halb geöffneten Thüre herein und zog dann, als er sah, daß er nichts zu fürchten habe, die übrige Gestalt vorsichtig nach.
»Ich bitte um ein Glas Bier, deutsches Bier!« sagte der Indianer mit wohlklingender, sonorer Stimme und im schönsten, geläufigen Englisch.
Das war den Rowdies ebenso merkwürdig wie mir. Sie steckten die Köpfe zusammen und begannen zu flüstern. Die versteckten Blicke, mit denen sie den Indianer musterten, ließen errathen, daß sie nichts Vortheilhaftes über ihn sprachen.
Er erhielt das Bier, hob das Glas gegen das Fensterlicht, prüfte es mit einem behaglichen Kennerblicke und trank.
»
Well!
« sagte er zum Wirthe, indem er mit der Zunge schnalzte. »Euer Bier ist gut. Der große Manitou der weißen Männer hat ihnen viele Künste gelehrt, und das Bierbrauen ist nicht die geringste unter denselben.«
Er sprach so geläufig und mit so richtigem Accent, daß ich mich leise zu Old Death wendete:
»Sollte man glauben, daß dieser Mann ein Indianer sei!«
»Er ist einer, und zwar was für einer!« antwortete mir der Alte ebenso leise, aber mit Nachdruck.
»Kennt Ihr ihn? Habt Ihr ihn schon einmal getroffen oder gesehen?«
»Gesehen noch nicht. Aber ich erkenne ihn an seiner Gestalt, seiner Kleidung, seinem Alter, am meisten aber an seinem Gewehre. Es ist die berühmte Silberbüchse, deren Kugel niemals ihr Ziel verfehlt. Ihr habt das Glück, den berühmtesten Indianerhäuptling Nordamerika’s kennen zu lernen, Winnetou, den Häuptling der Apachen. Er ist der hervorragendste unter allen Indianern. Sein Name lebt in jedem Palaste, in jeder Blockhütte, an jedem Lagerfeuer. Gerecht, klug, ehrlich, treu, stolz, tapfer bis zur Verwegenheit, Meister im Gebrauche aller Waffen, ohne Falsch, ein Freund und Beschützer aller Hilfsbedürftigen, gleichviel ob sie roth oder weiß von Farbe sind, ist er bekannt über die ganze Länge und Breite der Vereinigten Staaten und weit über deren Grenzen hinaus als der ehrenhafteste und berühmteste Held des fernen Westens.«
»Aber wie kommt er zu diesem Englisch und zu den Manieren eines weißen Gentleman?«
»Er verkehrt sehr viel im Osten, und man erzählt sich, ein europäischer Gelehrter sei in die Gefangenschaft der Apachen gerathen und von ihnen so gut behandelt worden, daß er sich entschlossen habe, bei ihnen zu bleiben, sich eine Tochter des Stammes zum Weibe zu nehmen und die Indianer zum Frieden zu erziehen. Er ist der Lehrer Winnetou’s gewesen, wird aber mit seinen philantropischen Ansichten nicht durchgedrungen und nach und nach verkommen sein.«
Das war sehr, sehr leise gesprochen worden; kaum hatte ich es verstehen können. Und doch wendete sich der über fünf Ellen von uns entfernte Indianer zu meinem neuen Freunde:
»Old Death hat sich geirrt. Der weiße Gelehrte kam zu den Apachen und wurde freundlich von ihnen aufgenommen. Er liebte die Schwester von Winnetou’s Vater, welche die ›Taube des Westens‹ genannt wurde, und nahm sie zum Weib. Er wurde der Lehrer seines Neffen Winnetou und hat ihn unterrichtet, gut zu sein und die Sünde von der Gerechtigkeit, die Wahrheit von der Lüge
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