Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
Los.«
Kyra schlüpfte aus dem Zimmer wie ein Schatten an der Wand.
Natalie schloss die Tür und zündete sich eine Zigarette an. Sie hatte wieder angefangen zu rauchen, als es passiert war, nachdem sie es vor drei Jahren aufgegeben hatte. Zigaretten waren das Erste, wonach sie gegriffen hatte. Sie stellte sich ein Stück vom Fenster entfernt, so dass man sie von draußen nicht sehen konnte, und beobachtete das Nachbarhaus, beobachtete die Polizeitransporter und die Polizisten in den weißen Raumanzügen, die Sachen hinein- und heraustrugen. Sie beobachtete sie täglich, konnte den Blick nicht davon wenden. Sie ging kaum mehr aus dem Haus. Sie hatte keine Ahnung, was sie zu sehen bekommen könnte, hatte ihren Befürchtungen noch keine Form gegeben, falls sie sich bewahrheiten sollten. Aber irgendwo in ihrem Hinterkopf hatte sich die Vorstellung von Leichen, im Garten ausgegraben, Kinderleichen, wie Gas festgesetzt und vergiftete sie.
Sie hatte nur wenig geschlafen, seit sie an ihre Tür geklopft hatten, kaum eine Stunde, nachdem sie die Nachrichten im Fernsehen gesehen hatte. Drei waren es gewesen, und Natalie hatte auf sie gewartet. Kyra war nicht da, spielte bei einer Freundin. Sie würden auch mit Kyra reden wollen, hatten sie gesagt, aber nicht jetzt, noch nicht.
Eds Haustür öffnete sich, und zwei von ihnen kamen heraus. Einer trug zwei schwarze Säcke mit … mit was? Natalie zog an der Zigarette. Sie wollte in das Haus gehen. Sie war ein- oder zweimal dort gewesen, um Kyra abzuholen, aber Ed hatte sie nie hereingebeten. Außerdem war es damals bloß ein Haus gewesen, das Wohnzimmer und der Flur von jemand anderem, die interessanten Möbel von jemand anderem. Jetzt sah das anders aus. Die Form des Hauses schien sich verändert zu haben. Es wirkte falsch, sonderbar. Natalie sah Fotos davon im Fernsehen, in den Zeitungen, Eds Haus, das Nachbarhaus nebenan, aber nicht dieses Haus, irgendwo anders, mit zugezogenen Vorhängen und Polizisten in weißen Anzügen und Transportern davor. Das Haus einer Mörderin. Eines Tages würde es in einem Film auftauchen oder in einem Buch über wahre Verbrechen, dieses Haus.
Sie musste noch einmal mit Kyra reden. Die Polizei war deswegen noch nicht da gewesen, und Natalie wollte alles, was es da gab, vorher aus ihr herauskriegen. Dass es da etwas gab, bezweifelte sie nicht. Es musste etwas geben. Ihr wurde ganz kalt bei dem Gedanken, was passiert war und, mehr noch, was am nächsten Tag, in der nächsten Woche hätte passieren können – passiert wäre. Kyra.
Sie liebte Kyra. Es war schwierig als Alleinerziehende, und sie hatte schlimme Tage. Kyra brachte sie an ihre Grenze, hörte nie auf mit Fragen und Herumhüpfen und Zappeln, war nie still, schlief nicht gut. Aber sie liebte sie. Wie könnte jemand daran zweifeln?
Die weißen Anzüge stapften über den Pfad zurück und schlossen die Tür.
Natalie ging in Gedanken hinter ihnen her. In den Flur. Links herum. Wohnzimmer, dasselbe wie hier. Wieder hinaus. Küche. Hintertür. Die Kyra manchmal benutzte. Benutzt hatte. Sie sah die Treppe, obwohl sie Eds Treppe nie hinaufgegangen war. Jetzt wollte sie es, wollte sich in jedem Zimmer umsehen, es in sich aufnehmen, wollte mit ihren Augen die Tapeten und Vorhänge abreißen, die Möbel zerlegen, um zu sehen, was darunter war oder dahinter.
Mehrmals am Tag hatte Natalie das Telefonbuch aufgeschlagen und unter dem Namen nachgesehen.
Sleightholme, E. S., Brimpton Lane 14
Der Eintrag hob sich von allen anderen auf der Seite ab. Die Zeile schwanke. Sie sah größer aus, der Druck schwärzer.
Sleightholme, E. S., Brimpton Lane 14
Es war bereits mehr als ein Name, eine Adresse, eine Telefonnummer. Sie war eingekreist. Sah aus wie …
Christie, J. R. H., Rillington Place 10
West, F., Cromwell Street 25
Genauso sah es aus.
Nur waren die tot, und das hier war wirklich, und sie konnte es sehen, dieses rote Ziegelhaus, genau wie ihr rotes Ziegelhaus, wenige Meter entfernt von ihrem Haus, in dem sie aß und schlief und sich anzog und kochte. In dem sie mit Kyra lebte.
Natalie drückte die Zigarette aus.
Im Haus nebenan war es jetzt still. Niemand kam oder ging. Die Transporter parkten davor. Das war alles.
Sie war froh gewesen, wenn Kyra hinüberging. Mehr als froh. Nur allzu bereit, sie dorthin zu lassen. Täglich. Sie wusste nicht, wie sie das jetzt empfand. Sie warf sich nichts vor. Wie hätte sie es wissen können? Kyra hatte nie aufgehört, jeden Morgen, jeden Abend,
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